Die letzte Flucht
der Stadt hielten, gemischt mit schlimmem Pöbel. Sie klatschten frenetisch Beifall einem obskuranten altpietistischen Pfarrer, der die Stuttgart- 21-Gegner schon einmal aus der Stadt hatte jagen wollen. Da wäre sie wahrscheinlich menschenleer, dachte Dengler. Und der Mob applaudierte dem unbeliebtesten Oberbürgermeister Deutschlands, dem Mann, der diesen Polizeieinsatz gerechtfertigt hatte. Dengler ging weiter. Ihm war kalt.
***
Unter dem Wutgeschrei und den Tränen der Stuttgarter Bürger fällte die Deutsche Bahn AG in der Nacht dreiundzwanzig der ältesten Bäume der Stadt.
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Olga ließ ihm ein heißes Bad einlaufen. Danach kochte sie Spaghetti aglio e olio, das Essen ihrer vertrauten Abende zu zweit auf dem Sofa. Herzensessen. Er erzählte ihr vom Park und vom Mob auf dem Marktplatz.
»Das Schlimme ist, dass ich eigentlich immer noch glaube, dass die Politiker und die Bahnvorstände wissen, was sie da machen. Sorry, ich wurde nicht dazu erzogen, etwas anzuzweifeln, was von oben kommt. Ich war Polizist«, sagte er zu ihr. »Aber wenn die Bahn mit dieser Gewalt auf die Bürger einprügeln lässt, dann muss da doch mehr dran sein, oder?«
»Sprich mit Martin«, sagte Olga nur.
Nach dem Essen schalteten sie den kleinen Fernseher ein, den Dengler in seinem Büro stehen hatte. Im Heute-Journal interviewte Marietta Slomka den baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech.
Dieser sagte: »Aber heute sind unsere Anti-Konflikt-Teams einfach abgewiesen worden. Es waren sehr schnell sehr viele gut organisierte Demonstranten vor Ort, und die haben sich sehr gewaltbereit gezeigt.«
»Er ist ein Lügner, Olga«, sagte Dengler. »Ich war dabei. Schau ihn dir an. Was für eine armselige Gestalt.«
»Im nächsten Frühjahr sind Wahlen«, sagte Olga. Sie war erstaunlich ruhig und klar, als würde sie das alles nicht überraschen.
»Ich glaube nicht, dass Wahlen etwas ändern können«, sagte Dengler. »Wenn das so wäre, hätten diese Typen sie schon verloren.«
***
Am nächsten Tag zogen hunderttausend Stuttgarter schweigend durch ihre Stadt. Als sie am Opernhaus vorbeizogen, war gerade Pause in der Aufführung von Verdis »Luisa Miller«. Die Besucher, in eleganten Anzügen und Kleidern, standen an den geöffneten Fenstern und klatschten, als die Demonstration vorüberzog. Andere eilten auf die Straße, applaudierten, und so begann der zweite Teil der Oper an diesem Abend etwas später. Zur gleichen Zeit gastierte Leonard Cohen wenige Kilometer weiter in einer der Stuttgarter Konzerthallen. »Ich singe jetzt für die Bäume in dieser Stadt«, sagte er und stimmte Bird on the Wire an, und fünfundzwanzigtausend Menschen klatschten mit Gänsehaut.
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48. Fünfter Tag (2)
»Als ich zu Peterson & Peterson kam, habe ich alles umgekrempelt. SAP eingeführt, den Vorstand ausgewechselt, McKinsey ins Haus geholt, was man eben so macht, wenn man einen großen Laden übernimmt. Footsteps setzen, wie man so sagt. Aber auf den entscheidenden Gedanken bin ich selbst gekommen. Wer sind unsere Kunden, wollte ich wissen. Wer schluckt unsere Medikamente? Diese Analyse hat unser Geschäftsmodell geändert. Auf Grund meiner Analyse, das darf ich sagen, hat Peterson & Peterson in Europa eine Gewinnexplosion erlebt, die es in dieser Firma noch nie gegeben hat. – Kann ich noch einen Schluck von diesem wirklich vorzüglichen Barbera haben?«
»Sicher.«
Henry hatte ein komplettes italienisches Menü zum Mittagessen mitgebracht. Bruschetta, Vitello tonnato, Spaghetti alle vongole und drei Flaschen Barbera d'alba DOC . Er hatte alles in Tupperdosen umgefüllt: kein Hinweis auf das Lokal, in dem er das Essen und den Wein gekauft hatte. Assmuss merkte diese Sorgfalt wohl. Er interpretierte es als gutes Zeichen.
Wenn er mich umbringen wollte, würde er sich solche Mühe nicht geben.
Und zum ersten Mal aß Henry, trotz schwarzer Maske, zusammen mit ihm.
»Also mit dem Wein muss ich vorsichtig sein. Wahrscheinlich bin ich gleich betrunken, hab ja seit Tagen keinen Alkohol mehr getrunken.«
»Wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Henry und schenkte Assmuss nach.
»Ich habe, das darf ich wirklich sagen, in aller Bescheidenheit, das Geschäftsmodell in der gesamten Branche völlig revolutioniert.«
»Und? Wer schluckt Ihre Medikamente?«
»Die Analyse ergab, dass wir 42 Prozent unseres Umsatzes mit nur drei Prozent der Patienten machen.«
»Was sind das für Patienten, diese drei Prozent?«
»Ja, das ist die
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