Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
ihren eigenen Behausungen im Hauptdorf. Die Wissenschaftler erkundeten die Datschen unter begeisterten Zurufen. Das einzige hohe Gebäude war ein imposanter Kalksteinblock voller Stuckverzierungen, der mit abblätternder Farbe überzogen war. Feuchtigkeit hatte die Bilder an der bemalten Decke der langgestreckten Eingangshalle unkenntlich gemacht; eine eiserne Wendeltreppe führte zu Zimmern, die von den oberen Galerien abgingen.
Das vorhandene Personal bestand zumeist aus älteren Ortsansässigen, die kein Englisch sprachen, so dass Elena Artemowa und andere der russischen Sprache Mächtige dolmetschen mussten. Sie schienen enttäuscht zu sein, dass es nur so wenige Wissenschaftler waren und sie folglich auch nicht so viele Zimmer brauchen würden. Elena war es offenbar peinlich, dass sie von einer älteren Frau in Verhandlungen über die Zimmerpreise verwickelt wurde.
»Man fragt sich, was diese Leute mit Geld anfangen wollen«, sagte Sanjay leise.
»Kann gut sein, dass diese alte Vettel das selbst nicht weiß«, murmelte Thandie. »Während ihre Söhne sich in die Berge verdrückt haben, um Mais anzubauen und sich um die Mädchen zu prügeln, ist sie hiergeblieben, um ordentlich Rubel für den Tag zu bunkern, an dem alles wieder normal sein wird. Guter Plan.«
»Vielleicht hat sie keine andere Wahl«, sagte Elena schroff. »Habt ihr mal daran gedacht?« Sie war achtundzwanzig, eine schwermütige, aber schöne Frau mit langem Gesicht, blasser, leuchtender Haut, großen Augen und einem Mund mit heruntergezogenen Mundwinkeln; das Haar trug sie nach
hinten gebunden, was ihre knochige Stirn betonte. »Vielleicht wollten ihre Söhne sie nicht ›in die Berge‹ mitnehmen. Vielleicht kann sie da oben nicht arbeiten. Das hier ist alles, was sie hat. Die Welt ändert sich, und jeder von uns steht unter Druck, Thandie Jones. Und wir haben nicht alle reiche westliche Institutionen im Rücken, die unsere Abenteuer finanzieren.«
Thandie schnaubte. »Verschon mich damit, Mütterchen Russland. Du nimmst den Woods-Hole-Dollar genauso entgegen wie wir anderen auch.«
»Wenn wir und der ›Woods-Hole-Dollar‹ nicht wären«, sagte Sanjay, »würden diese alte Frau und ihre Kolleginnen und Kollegen Hunger leiden. Also haben alle was davon, nicht? Belassen wir’s dabei.«
Weder Thandie noch Elena war damit zufrieden, aber sie waren schon seit Istanbul immer wieder aneinandergeraten. Ihr permanenter Streit brachte seltsamerweise die stereotypen Verhaltensweisen der beiden zum Vorschein, dachte Gary - auf der einen Seite die moralinsaure Russin, auf der anderen die arrogant-herablassende Amerikanerin.
Niemand wollte im Haupthaus wohnen, obwohl sie dessen Einrichtungen wie die Duschen und die Waschküche nutzen würden. Stattdessen entschieden sich alle zwölf für eine Ansammlung der kleinen einstöckigen Hütten unter dem Schutz der Fichten. Sie standen so nah beieinander, dass sie im gemeinsamen Garten ihre abendliche Kaminrunde abhalten konnten, ein wichtiges Ritual.
Gary und Sanjay teilten sich eine Hütte. Erschöpft von seinen Reisen, stellte Sanjay den Rucksack ab, schleuderte
die Stiefel von sich, ließ sich auf ein Bett fallen und schlief ein. Einige der Amerikaner begannen mit einem improvisierten Softballspiel im Schatten der Kiefern, um die steifen Glieder zu lockern.
Gary machte sich auf die Suche nach Thandie und - aus einer boshaften Laune heraus - Elena und schlug vor, das Dorf zu erkunden. Die Frauen beäugten einander misstrauisch, kamen jedoch mit.
Umgeben von bewaldeten Gipfeln, war Krasnaya Polyana ein hübscher Ort, und in sechshundert Meter Höhe über dem ehemaligen Meeresspiegel lag es viel zu hoch, als dass es von den Fluten berührt worden wäre. Es war schön, umherzuwandern und eine nicht von Rauch oder Abwassergestank verunreinigte Luft zu atmen. Gary verstand, weshalb es Putin hier gefallen hatte - ein Mann von Geschmack, dachte er. Jetzt, wo der Tourismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts abgeflaut war, hatte es dem Freizeitreisenden wahrscheinlich sogar noch mehr zu bieten, vorausgesetzt, man wurde nicht von einer russischen Survivalisten-Variante erschossen.
Sie fanden Wege, die zu einem Arboretum und den Überresten einer Jagdhütte führten, die noch aus der Zeit vor Putin und sogar vor dem modernen Russland stammen musste; vielleicht hatte sie den Zaren gehört. Dahinter gelangten sie in ein Flusstal, wo ein fadendünner Wasserfall in ein kleines Wasserbecken stürzte.
Thandie
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