Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
unsicher, bekümmert und störrisch an. »Wir werden heiraten«, erklärte sie. »Gemäß den Traditionen von Ollantays Volk …«
»Sie ist schwanger«, sagte Piers. »Das hat sie uns erzählt. Schwanger . Von diesem Mann.« Er brachte es offenbar nicht über sich, Ollantay anzusehen oder auch nur seinen Namen auszusprechen. Steif und unbeweglich, sah Piers empfindlicher aus denn je, fand Lily, ausgetrocknet und zerbrechlich. Und jetzt sah sie, wie massig Kristie unter ihren weiten Wollkleidern wirkte.
Ollantay war jetzt dreißig; sein Hals war dicker, seine Haut ledriger. Er hatte sein jungenhaftes Aussehen eingebüßt, war aber noch genauso anmaßend wie eh und je. Er lächelte.
Lily blies die Wangen auf und setzte sich ebenfalls. »Deshalb hast du uns also hergebeten, Kris.«
»Ihr gehört zur Familie«, sagte Kristie. »Du bist meine Tante.« Sie holte Luft. » Sie ist meine Mutter. Ich wollte es euch persönlich sagen. Ich hatte gehofft, ihr würdet euch für mich freuen.«
»Freuen!«, fauchte Amanda. »Oh, du verdammte kleine Närrin.«
»Ollantays Eltern sind glücklich. Seine Mutter …« »Um Gottes willen, Kristie, nichts interessiert mich weniger als so eine Bande verlauster Alpaka-Hirten.«
Ollantay funkelte Amanda böse an. »In meiner Kultur«, sagte er, »leben Liebespaare vor der Ehe zusammen. Es ist eine Zeit, die wir sirvinakuy nennen, das bedeutet ›einander dienen‹. Wir heiraten nur, wenn eine Schwangerschaft eintritt und wir gezeigt haben, dass wir starke Kinder bekommen werden. In meiner Tradition ist alles an unserer Beziehung ehrenhaft gewesen.«
Piers stand auf. »Oh, das ist … es ist einfach nicht zu ertragen.« Er ging steifbeinig davon und bückte sich, um durch die niedrige Tür zu kommen.
Amanda starrte Kristie wütend an. »Was muss ich tun, um dich dazu zu bringen, das Kind aufzugeben? Soll ich mit Juan oder mit Nathan sprechen? Soll ich diesen Clown, der dir einen Braten in die Röhre geschoben hat, festnehmen lassen?«
»Oh, Mum …«
Amanda erhob sich und ging auf ihre Tochter zu. »Wie wär’s mit einer Zwangsabtreibung? Dafür könnte ich sorgen, weißt du.«
»Mum, ich bin im siebten Monat!«
»Glaubst du, das spielt eine Rolle? Ich rede hier nicht von einem staatlichen Krankenhaus. Ich brauchte nur ein Wort zu Nathan zu sagen. Willst du das?«
Kristie wandte das Gesicht ab. Ollantay stand auf, um sie zu beschützen. Lily erhob sich ebenfalls und versuchte, zwischen sie zu gelangen, bevor es zu Gewalttätigkeiten kam.
Und Sanjay, der in seiner Ecke auf den Bildschirm seines Handys starrte, lachte. »Wusste ich’s doch, dass ich dieses Profil schon mal gesehen habe. Es ist die Queen Mary .
Nathan Lammockson baut eine Neuausgabe der Queen Mary auf halber Höhe der verdammten Anden. Oh, danke, Ganesha, dass du mich lange genug am Leben erhalten hast, um das zu sehen!«
58
SEPTEMBER 2031
Gary setzte auf dem rissigen, staubigen Asphaltband einen Fuß vor den anderen. Grace ging neben ihm, sechzehn Jahre alt, schlank, aufrecht, fast wie ein wildes Tier. Gemeinsam schoben sie den Einkaufswagen, in dem Michael Thurleys reglose Gestalt lag. Zusammengerollt in dem großen Gitterkorb, schlief Michael unruhig unter einer Plastikplane.
Vor und hinter ihnen schlurften die Wanderer dahin, eine kilometerlange Schlange. Die Wachposten der Bürgermeisterin gingen neben der Hauptkolonne einher; ihre Schrotflinten und Pistolen waren deutlich zu sehen. Um sie herum erstreckte sich die flache Trostlosigkeit der Great Plains bis zum Horizont.
Dies war Walker City, eine Stadt auf Wanderschaft. Wandern war die Welt. Wandern war Leben.
Gary verbrachte einen Großteil seiner Zeit in einem Zustand der Benommenheit. Solange die Wanderung selbst nicht zu anstrengend war, verlor er sich meist in ihrem langsamen Rhythmus - das sanfte Schwanken seines Körpers, das Arbeiten der Muskeln, immer einen Fuß vor den anderen, so verwanderte er seine besten Jahre auf dem Weg über diese gewaltige, den Kontinent umspannende, den Geist betäubende Ebene. Manchmal dachte er, dieser Streifzug sei eine karmische Reaktion auf seine Erlebnisse in den Kellern
von Barcelona; jene Zeit des Eingeschlossenseins werde nun ausgeglichen durch diese Jahre nahezu unendlicher Weite, die Ebene unter seinen Füßen, den riesigen Himmel über ihm.
Und jeden Morgen, wenn die Muskeln nach ein paar Kilometern aufgewärmt waren, machte sich sein Geist selbstständig wie ein von seiner Schnur befreiter Ballon.
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