Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Mit neununddreißig Jahren schien er so vieles abgelegt zu haben, seine obsessive Sinnsuche der Vergangenheit, seine Ängste vor dem, was die Zukunft für ihn, Grace und Thurley bringen mochte. All das war ohne Belang, wenn man nichts anderes tun konnte, als zu laufen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, eine langsame Fortbewegung in die reale Zukunft.
Doch hin und wieder fand er zu sich selbst zurück.
Er hatte schon längst jedes überschüssige Gramm Fett verloren. Seine Füße waren wie Lederballen, die Bein- und Gesäßmuskeln hart wie Stein. Seine Stiefel waren so abgenutzt, so geschmeidig und poliert, dass sie schon zu seiner Haut zu gehören schienen. Er trug den alten, langlebigen AxysCorp-Overall, der inzwischen die Farbe des Staubes angenommen hatte. Der Rucksack auf seinem Rücken enthielt einen weiteren Overall, seine einzige Kleidung zum Wechseln, so oft gewaschene Unterwäsche, dass man hindurchschauen konnte, und andere leichte Ausrüstungsgegenstände, Plastiksandalen, einen silbern beschichteten Poncho, der Regen oder Sonnenhitze abhielt, einen dünnen, aber warmen Schlafsack und eine aufblasbare Luftmatratze, Teile eines aufblasbaren Zelts und Kochgeschirr. Ein paar Sachen, die nicht in den Rucksack passten - ein leichter Spaten, eine Spitzhacke und ein Beutel mit Nahrung und Wasserflaschen -, hingen an seiner Taille.
All dieses Zeug hatte sich in den langen Jahren der Wanderung gewissermaßen selbst ausgewählt, hatte eine Darwin’sche Selektion nach Nützlichkeit, Robustheit und Leichtigkeit überstanden, wo anderer Plunder kaputtgegangen war oder sich als zu sperrig oder zu schwer erwiesen hatte. Alles Produkte einer weitgehend verschwundenen Zivilisation, alles über die Maßen kostbar.
Und eben deshalb war Thurley vor ein paar Tagen in solche Schwierigkeiten geraten. Man konnte es sich nicht leisten, sich die Stiefel stehlen zu lassen, auch wenn man dabei sein Leben aufs Spiel setzte.
Dieses Land war anders als Iowa, wo sie zur Erntezeit durch eine vor Leben strotzende Landschaft gewandert waren - rote Scheunen, die in den gelben und grünen Feldern leuchteten, glänzende Wassertürme, mächtige weiße Getreideheber. Dort hatten sie immer gute Aussichten gehabt, Arbeit zu finden, denn niemand besaß noch irgendwelches Benzin. Die großen Erntemaschinen standen untätig herum, und die Ernte musste mit menschlicher und tierischer Muskelkraft eingebracht werden.
In Nebraska jedoch herrschte nichts als Leere, eine Ebene, die kein Ende nahm. Die Städte waren kleine Ortschaften mit einer einzigen Straße, in denen es nicht viel mehr als Getreidesilos, stillgelegte Tankstellen und ausrangierte Autos gab und wo die Reklametafeln mit unmissverständlichen Botschaften übermalt waren: NICHTS ZU ESSEN. KEIN BENZIN. WIR SCHIESSEN. WEITERGEHEN. HUNDE. Die Straßen zwischen den Städten waren leer, nur hin und wieder stieß man auf ein Wohnmobil oder einen Geländewagen, dort stehen gelassen, wo einem früheren Emigranten das Benzin ausgegangen
war. Die Bevölkerung war verschwunden, bis auf diejenigen, die es leichter fanden, Durchreisende auszurauben, als etwas für den eigenen Bedarf zu produzieren. Und am Ende war Thurley mit solchen Räubern zusammengestoßen.
Deshalb konnte Gary heute nicht abschalten; Thurleys Last bewirkte, dass er mit den Gedanken bei der Wanderung blieb. Der Einkaufswagen, der von dem Supermarkt, zu dem er gehörte, bis hierher schon eine weite Reise zurückgelegt hatte, war eine Leihgabe der Bürgermeisterin. Er war gerade eben groß genug für Michael, wenn er die dünnen Beine an die Brust zog, obwohl er jedes Mal, wenn die kleinen Räder klemmten, ordentlich durchgeschüttelt wurde. Auf Michaels Drängen hin hatten sie die Stiefel unter seinem Körper verstaut - Michael hätte beinahe sein Leben für die verdammten Dinger gegeben, und er war nicht gewillt, sie jetzt zu verlieren.
Gary teilte sich die Mühe, den Wagen zu schieben, mit Grace. Aber diese Art des Laufens brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und als die Kilometer ins Land gingen, spürte er, wie diese Asymmetrie sich in seinen Hüften und seinem Rücken niederschlug. Ihm gefiel das ganz und gar nicht, gestand er sich ein, als der lange Tag immer mehr auf ihm zu lasten begann und die Schmerzen stärker wurden.
Am Nachmittag ging es ihm so schlecht, dass er tatsächlich erleichtert war, als die F-15 kreischend von hinten über sie hinwegschoss.
Alle duckten sich stolpernd. Gary ließ den Griff los,
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