Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
der er in früheren, besseren Zeiten auf der Intensivstation gelandet wäre, außer der Ersten Hilfe durch Gary und Grace keinerlei ärztliche Behandlung zuteil geworden war.
»Lassen wir ihn einen Moment ausruhen. Dann versuchen wir, ihm ein bisschen was einzuflößen.«
»Klar. Später gehe ich nach vorn. Mal sehen, ob ich einen Arzt finde, der Zeit für ihn hat.« Gary wühlte in seinem
Rucksack nach den Teeblättern und Blechtassen und überprüfte ihren Nahrungsvorrat. Es war die Kost von Nomaden, zäh, schwer zu kauen, lange haltbar: ein Streifen Kaninchendörrfleisch, ein paar Laibe harten, ungesäuerten Brotes, das von den Bäckereien der mobilen Stadt hergestellt wurde, und sonnengetrocknetes Obst, Rosinen und Aprikosen.
Grace sah, dass er sein Telefon eingeschaltet hatte. »Und, wo sind wir?«
Er nahm es in die Hand und rief die GPS-Funktionen auf. »Ein paar Kilometer nördlich von Lincoln. Ich glaube nicht, dass wir’s bis heute Abend dorthin geschafft hätten. Morgen, klar. Hängt alles von der Verzögerung an der Straßensperre ab.«
Eine solche Sperre war ein echtes Problem. Die Bürgermeisterin hatte zumindest für ein paar Wochen einen Aufenthalt im offenen Gelände nördlich von Lincoln ausgehandelt, mit Unterkunft, Verpflegung und Wasser als Gegenleistung für die Mithilfe beim Bau von Flutwehren sowie Hafenarbeiten und Feldarbeit in der Umgebung der Stadt. Die Wanderer konnten nicht viele Vorräte mitschleppen, und ihnen gingen allmählich die Nahrungsmittel aus. Eine Verzögerung von mehr als ein oder zwei Tagen mochte zur Folge haben, dass echter Hunger ausbrach. Aber dagegen konnte Gary im Augenblick rein gar nichts tun.
Er zog Stiefel und Strümpfe aus, immer ein entscheidender Moment des Tages. Dann wühlte er in seinem Rucksack nach den Plastiksandalen, die er im Lager trug. Sie waren offen und weich, so dass seine Füße Platz hatten, zu atmen und sich zu entspannen. Die Stiefel versteckte er unter einer Decke. Er holte sein Taschenmesser und seine Raspel
heraus, weil er die harte Haut an seinen Fersen bearbeiten wollte. Wie ein Soldat, dachte er zerstreut, vielleicht wie die Burschen an der Straßensperre da vorn, und wie jeder Infanterist bis zurück zu Alexander. Man kümmerte sich immer um seine Füße.
»Du träumst mit offenen Augen«, sagte Grace. »Schalt dein Handy aus.«
»Ja.« Er hielt es bedauernd hoch. Der kleine Bildschirm leuchtete wie ein Fenster zu einem besseren Ort. Dies war seine einzige Verbindung zum Rest der Welt außerhalb der wandernden Stadt, zu der Familie, von der er seit dem Tod seiner Mutter nichts mehr gehört hatte, seinen wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, zu Lily aus Barcelona. Er besaß zwar ein Aufladegerät, aber keine Stromquelle. Es hatte ihm das Herz gebrochen, als er gezwungen gewesen war, sein tragbares Solarladegerät gegen Nahrung einzutauschen; damals hatten sie, irgendwo in der Nähe von Dodge City in einem Staubsturm gefangen, ihre bisher schlimmste Zeit durchgemacht. Gelegentlich - sehr selten - stieß man auf eine Gemeinschaft, bei der es Strom gab, von der Sonne, aus Biobrennstoffen, vom Wind oder aus Erdwärme, so dass Gary die Batterie des Handys als Lohn für seine Arbeit aufladen konnte. Aber die letzte Aufladung lag schon lange zurück, und die paar Sekunden oder Minuten pro Tag, die er es sich einzuschalten erlaubte, zehrten die Energie stetig auf.
Er hielt den Daumen über die Einschalttaste. Doch dann erwachte der Bildschirm plötzlich zum Leben und zeigte ihm eine SMS-Nachricht: »Nicht abschalten. Komme. Finde dich.« Sie stammte von Thandie Jones.
59
Ein offener Jeep raste die Straße entlang, hinter dem Lenkrad ein Bursche in Uniform, Thandie und eine andere Frau auf dem Rücksitz. Der Jeep war mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre alt und sah noch viel älter aus. Aber offensichtlich hatte zumindest die Army noch Zugang zu Benzin. Die Leute machten große Augen. Abgesehen von den kleinen Elektrowagen der Stadt sah man heutzutage kaum noch ein Fahrzeug, das diese Bezeichnung verdiente.
Gary war fasziniert und aufgeregt. Er hatte Thandie seit fünf, sechs Jahren nicht mehr gesehen, seit sie Lone Elk in Cadillac City über den Stand der Dinge und die zu erwartenden Entwicklungen informiert hatte. Er wusste, dass sie an den Küsten des wachsenden amerikanischen Binnenmeeres umhergestreift war, dessen Entstehung studiert und die Regierung in Denver über seine Befahrbarkeit, seine Ökologie und anderes in
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