Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
sein, wenn man nicht mal ein paar Hebel in Bewegung setzen kann? Nun mach schon.«
Gordo sah verärgert drein. Schließlich stand er auf, ging zu seinem Jeep zurück und sprach ins Funkgerät.
Thandie zwinkerte Gary zu. »Er hält sich immer noch für ein großes Tier.«
»Ja«, fügte Elena hinzu, »und er glaubt offenbar, dass jede Frau der Welt ihn unwiderstehlich findet. Er hat’s sogar mal bei mir versucht. Hat mich als ›kessen Vater‹ bezeichnet. Erst nach einem Faustschlag in die Eier hat er die Finger von mir gelassen.«
»Man muss ihn halt zu nehmen wissen«, sagte Thandie. »Du musst zugeben, dass er nützlich ist.«
Das Wasser im Topf kochte. Gary warf ein paar Teeblätter hinein, schwenkte das Gebräu und goss es in Blechtassen. Er
holte Kaninchendörrfleisch aus seinem Rucksack und legte es auf die dünnen Plastikteller.
Gordo kam zurück. Er blieb kurz stehen, trank einen Schluck aus dem Flachmann und ließ den Blick über das Lager am Straßenrand schweifen, die freie Hand an der Hüfte zur Faust geballt. »Herrgott! Ich kann nicht glauben, dass ihr so lebt. Landstreicher, die im Dreck rumlatschen. Stimmt es, dass Frauen unterwegs Kinder gekriegt haben? Dass sie gebumst wurden, ihre Jungen ausgetragen und geworfen haben, alles auf der Straße?«
»Hübsch ausgedrückt, du Komiker«, sagte Thandie.
Gary ließ sich nicht provozieren. »Auch wenn wir unterwegs sind, müssen wir trotzdem leben. Und für die meisten Menschen bedeutet leben nun mal, Kinder zu kriegen. Jedenfalls wandern wir nicht einfach nur durch die Gegend. Wir sind organisiert. Das sieht man doch. Wir sind eine Stadt auf Wanderschaft. Wir haben ein Stadtoberhaupt, das wir wählen, wenn auch per Handzeichen. Wir haben Polizisten und medizinische Einrichtungen, und wir treiben Handel mit anderen Gemeinschaften. Wenn wir haltmachen, gibt es einen geregelten Ablauf, wir heben Latrinen aus und stellen Wachen auf. Wir haben Geistliche jeder Konfession, auch Imame und Rabbis. Wir helfen einander, wir begraben unsere Toten, wir sorgen für unsere Kinder. Und wir achten darauf, dass wir keinen Ärger bekommen. Der erste Bürgermeister war ein Mann namens Lone Elk, ein Seminole …«
»Ich erinnere mich an ihn«, sagte Thandie. »Offenkundig ein kluger Bursche.«
»Ein Heckenschütze hat ihn getötet, aber das von ihm eingerichtete System ist bestehen geblieben. Wir sind keine
Bettler, wir sind Wanderarbeiter. Wir arbeiten für Kost oder Logis. Es ist kein idealer Zustand, aber er soll ja auch nicht ewig dauern. Wir suchen einen Ort, wo wir ein wenig Wurzeln schlagen können. Bis wir den finden, sind wir unterwegs. Eine Wanderarbeiterstadt, aber nichtsdestotrotz eine Stadt.«
Thandie warf Elena einen Blick zu, als Gary das sagte, und er wusste, was sie dachte.
Das Binnenmeer, das sich von Osten her über Nordamerika ausgebreitet hatte, war im Westen jetzt bis zu einer Nord-Süd-Linie vorgedrungen, die von North und South Dakota über Omaha, Wichita und Oklahoma City bis zum Golf verlief. Östlich dieser unregelmäßigen Uferlinie war bis zur ehemaligen Atlantikküste außer Resten der Appalachen nichts mehr von den kontinentalen Vereinigten Staaten übrig, nichts als Meer. Selbst in Amerika wurde der Raum knapp.
»Ihr werdet immer abgewiesen«, sagte Elena.
»Das stimmt. Einmal hat das Stadtoberhaupt eines Ortes, zu dem wir gekommen sind, sogar seine Nationalgarde gegen uns mobilisiert - hat gesagt, wir verdienten den Tod.«
Das machte Elena wütend. »War das Stadtoberhaupt ein Mann? Nur ein Mann würde sagen, dass ein Kind den Tod verdient.«
An anderen Orten hatten sie selbst nicht bleiben wollen.
Die brandneuen Städte der Regierung auf den Great Plains, die man gemeinhin »Friedmanburgs« nannte, hatten sich als Tummelplätze der Konzerne und Enklaven für die Reichen erwiesen, Experimente in ungebremstem Kapitalismus sozusagen. Um die mit Mauern bewehrten Grünen Zonen
hatten sich die üblichen Hüttensiedlungen gebildet, die vom Abfall vergangener Zeiten lebten und billige Arbeitskräfte für die »Burgs« lieferten. Doch vor einem Jahr, so hatte Gary gehört, hatten sich die Dinge schließlich geändert. Mittlerweile landeten nicht nur die besitzlosen Armen in den Slums, sondern auch viele inzwischen völlig rui nierte Angehörige der alten Mittelschichten Amerikas, die nun in Papphütten hausten wie alle anderen auch. Es hatte immer Widerstand gegen den Charakter der Friedmanburgs und ihre Konzerndominanz gegeben,
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