Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
eines Korallenriffs zu trauern. Aber bei niedlichen Säugetieren war das immer etwas anderes.
Die Eisbären waren die Posterstars der globalen Erwärmungskrise gewesen, die den Planeten schon lange vor der Flut heimgesucht hatte. Jetzt hielten Toodlepip und andere Agenturen jeden Frühling überall ums Nordpolarmeer herum ängstlich oder erwartungsvoll nach aus dem Winterschlaf erwachenden Bären Ausschau. Dieser Moment war nämlich der kritische Punkt für das Überleben der Tiere. Wenn das Meereis schmolz, würden die Bärenmütter keine Robbenbabys fangen können, auf deren Fleisch sie nach dem Winterschlaf angewiesen waren. Und wenn die Mütter nichts zu fressen fanden, verhungerten ihre Babys, und das war’s.
Es herrschte allgemeine Einigkeit darüber, dass der allerletzte wilde Bär ein unglückliches, ausgehungertes Junges war, gelb gefleckt vom Urin seiner toten Mutter. Und da man die Zoos schon längst als kostspieligen Luxus aufgegeben hatte, war der letzte Bär in der Wildnis wahrscheinlich der
letzte auf der ganzen Welt, und die Bären würden sich zu den Elefanten, den Tigern und vielen, vielen anderen Arten gesellen, die in Genbanken und Zygotenarchen lagerten.
Aus dem Toodlepip-Video ging nicht klar hervor, ob das Bärenjunge eines natürlichen Todes gestorben oder von dem Inuit-Jäger erschossen worden war, der das Kamerateam überhaupt erst zu dieser abgelegenen Stelle in der kanadischen Arktis geführt hatte. Aber auch das war eine Story - der letzte Inuit, der den letzten Bären erlegte. Das Ereignis erregte so viel Aufsehen, dass es in die internationalen Nachrichtenüberblicke Eingang fand.
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JUNI 2035
Der AxysCorp-Hubschrauber sank aus einem aufgewühlten Himmel nieder. Auf dem Nazca-Floß war ein Landeplatz für ihn bereit, gekennzeichnet mit leuchtend gelber Farbe auf einer vollgepackten Fläche, die sich sanft hob und senkte. Der Chopper setzte behutsam auf. Lily, die vom Floß aus zusah, wusste, dass die Piloten des Unternehmens mit ihren Maschinen nur ungern auf den Stadtflößen landeten, und diesen Widerwillen merkte man ihrer Flugweise an.
Sobald der Motor erstarb, stieg Juan Villegas aus und ging geduckt unter den langsamer werdenden Rotorblättern hindurch. Er zog eine Kiste hinter sich her. Der Pilot, insektenhaft hinter seiner Sonnenbrille, blieb in der Sicherheit der glänzenden Blase seines Cockpits sitzen; er löste nicht einmal seinen Gurt. Lily lief mit gesenktem Kopf herbei und half Juan mit der Kiste. Villegas stolperte auf der schwankenden Fläche. Die Kiste war nicht schwer, aber klobig und unhandlich. Zusammen gelangten sie zum Rand des Helipads, zwei ältere Leute, dachte Lily, die ihr Gepäck über diese unebene, schaukelnde Fläche aus Plastikplanen zogen.
»Danke«, sagte Villegas mit Nachdruck. »Ich hatte nicht erwartet, dass der Boden so wackelig sein würde.«
»Sie machen das ganz gut«, erwiderte Lily, und sie meinte
es auch so. Er war jetzt siebenundfünfzig, nur ein paar Jahre jünger als sie. Von der seidigen Schwärze, die seinem Haar einst Glanz verliehen hatte, war nur noch wenig übrig, und anstelle eines eleganten Anzugs trug er einen AxysCorp-Overall, der so abgewetzt und häufig geflickt war wie Lilys eigener. Aber er war immer noch ein gut aussehender Bursche, dachte sie mit einem seltenen Anflug von Eifersucht. »Immerhin sind Sie hier. Viele Leute aus Project City weigern sich, einen Fuß auf die Stadtflöße zu setzen.«
Er nickte. »Ich weiß. Sagen Sie das meinem Piloten.« Das Floß hob sich erneut, und sie taumelten beide; Lily hätte die Kiste beinahe losgelassen. »Der Sturm kommt«, sagte Villegas. Er blickte nervös nach Westen, auf den Pazifik hinaus. »Wir konnten die schwarze Wolkendecke vom Hubschrauber aus sehen. Die Wettervorhersagen kündigen ihn schon seit Tagen an. Und wenn die Sturmflut kommt, ist es aus mit Nazca. Sind Sie wirklich sicher, dass das Floß hält?«
»So sicher, wie ich nur sein kann. Marias Hütte ist gleich da drüben - Maria Ramos ist die Bürgermeisterin. Wir bringen die Sachen am besten dorthin.«
»Ich bin ganz in Ihrer Hand.«
Sie kämpften sich weiter vorwärts.
Lily war am Bau des Floßes beteiligt gewesen, sie hatte ein Team von AxysCorp-Technikern geleitet. Das Gerippe des Floßes war auf einer großen freien Fläche im Herzen der alten Stadt auf Stapel gelegt worden; die Grundelemente - Pontons aus Reifen und Ölfässern - wurden mit einem Netz von Trägern überzogen, die aus
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