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Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood

Titel: Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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hatte und in denen Brillengläser geschliffen wurden. Noch lange, nachdem die Leute aufgehört hatten, etwas niederzuschreiben, würden sie sehen können müssen.
    »Mit dir habe ich nicht gerechnet«, sagte Lily, als sie sich erholt hatte. »Was ist los? Alles in Ordnung mit Manco?«
    Kristie verzog das Gesicht. »Der kleine Hosenscheißer ist
um diese Zeit am Morgen eine echte Nervensäge.« Hin und wieder, und meistens dann, wenn sie fluchte, schimmerten Kristies Londoner Wurzeln durch den vage transatlantischen Lack, den sie sich angeeignet hatte. »Er ist am Klettergerüst. Wenn wir nicht unterwegs sind und er schwimmen gehen kann, ist es besser. Aber ich muss ihn müde machen, bevor ich ihn guten Gewissens in der Schule abliefern kann … Ich habe dich gesucht, Lily. Ich dachte, du wüsstest es gern.«
    »Was?«
    »Es kam in den Schiffsnachrichten. Das Funkfeuer auf dem Scafell Pike ist gestern Nacht verlorengegangen.«
    »Oh.« Der Scafell Pike in Cumbria war der höchste Punkt in England - gewesen. »Die Waliser Berge und die schottischen Highlands sind aber bestimmt noch da.«
    »Ja, und voller Banditen, den Nachrichten zufolge. Großbritannien existiert noch. Aber England ist weg, bis auf den letzten Rest. Erstaunlich, nicht wahr?«
    »Ja. Und wir waren dabei, als es für England angefangen hat.«
    Kristie lächelte. »Als du uns aus Greenwich retten musstest.«
    »Ach, du bist damals selbst ganz gut zurechtgekommen. Und am Ende sind wir jetzt hier.«
    »Wir waren ein paarmal in Cumbria, an den Seen. Mum ist mit uns hingefahren.«
    »Ich erinnere mich an die Postkarten.«
    »Aber den Scafell Pike haben wir nie bestiegen.«
    »Klettern war nichts für eure Mum, stimmt’s?«
    »›Was, mit diesen Absätzen?‹«

    Lily lachte. Plötzlich sehnte sie sich danach, ihre Nichte, diese verletzte, einunddreißigjährige Frau, in den Arm zu nehmen, ein abrupter, mächtiger Impuls. Aber sie wusste, dass sie das nicht durfte; der verbale Kontakt musste fürs Erste reichen.
    Das Problem zwischen ihnen war Piers. So wie ihre Mutter ihm Benjs Tod nie hatte vergeben können, würde ihm Kristie nie verzeihen, dass er Ollantay getötet hatte. Lily hatte versucht, es ihr auszureden, aber Kristie wusste , wie viel Befriedigung es Piers verschafft hatte, seinen Rivalen zu erschießen. Sie hatte es in seinem Gesicht gesehen, in seinen Augen, als er auf den Abzug gedrückt hatte. Und offenbar gab sie ihm inzwischen sogar noch die Schuld am Tod ihrer Mutter.
    In jeder anderen Zeit hätte Kristie einfach wegziehen und Piers auf diese Weise entfliehen können. Aber sie saßen auf einem Schiff fest, das einem sehr klein vorkam, wenn man es mit jemandem teilte, den man hasste. In dieser Hinsicht war die Arche wie ein maßstabsgetreues Modell der gesamten, kleiner gewordenen Welt, dachte Lily.
    »Tja, so viel zu England«, sagte Kristie. »Jetzt muss ich zur Arbeit.« Sie erlaubte Lily, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann trennten sie sich voneinander, um ihren Tag zu beginnen. Lily ging zu ihrer Kabine, um sich umzuziehen, und Kristie machte sich auf den Weg zum Ballsaal, wo das Tageskontingent toter Schalentiere schon zur Verarbeitung vorbereitet wurde.

77
    APRIL 2036
    Mit großer Vorsicht näherte sich die Arche der Küstenlinie Europas.
    Lammocksons Ziel war die Schweiz, wo er Handelsbeziehungen mit der einzigen noch halbwegs funktionierenden Regierung in Westeuropa aufnehmen wollte. Dann sollte es weiter nach Osten gehen, zum zentralasiatischen Hochland. Sein dortiges Ziel war Nepal: das Tor zum tibetischen Plateau, wo er gute Geschäfte machen zu können glaubte. »Es ist das ausgedehnteste Hochlandgebiet der Welt«, erklärte er. »Und der Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Zukunft. Deshalb müssen wir dort sein.« Doch seit den Berichten von einem katastrophalen Dreifrontenkrieg zwischen China, Russland und Indien um das kostbare Hochland - einem Krieg, vor dessen Ende gerüchteweise Atomwaffen zum Einsatz gekommen waren - hatte es nur noch fragmentarische Nachrichten aus dieser Region gegeben. Nicht wenige Besatzungsmitglieder fragten sich besorgt, was sie vorfinden würden, sollten sie jemals dorthin gelangen. Aber das lag alles noch weit in der Zukunft.
    Das Schiff fuhr ins Mündungsgebiet der Westerschelde ein. Sonar und Radar spürten die Landschaft auf, die unter dem Bug vorbeizog, und das Bordfernsehen übertrug stark bearbeitete Bilder in Lilys Kabine, einen geisterhaften Teppich
von Häusern, Straßen und

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