Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Obwohl es nieselte, war es nicht kalt. Die Arche hob und senkte sich leicht auf einem stahlgrauen Meer. Sie waren unterwegs; Lily spürte die Drehung der Schrauben in einer leisen Vibration des Decks.
Piers kam heraus und gesellte sich zu ihr. Er trug einen leichten Overall mit heruntergekrempelten Ärmeln. Er gab Lily eine John-Deere-Baseballkappe, die einmal dunkelblau gewesen war, inzwischen jedoch zu einer Art Grau verblichen war.
Sie nahm sie widerstrebend entgegen. »Muss ich? Ich habe Hüte noch nie gemocht. Mein Kopf hat nicht die richtige Form dafür.«
»Niederschlag mehr als ein Millimeter pro Stunde.«
»Himmel noch mal, Piers, wir haben ein Dach über dem Kopf. Ich sehe den Regen, aber es gibt nicht mal einen Windhauch. Wir bleiben hier knochentrocken.«
»Schiffsregeln. Saurer Regen. Du weißt doch, wie’s läuft. Lieber einen Hut auf dem Kopf als eine verätzte Kopfhaut. Du bist heute aber auch eine miesepetrige Ziege«, sagte er gut gelaunt.
Sie stöhnte auf. »Es ist so ein lausiger Tag. Die ganze Welt
ist grau. Na, komm, bringen wir’s hinter uns.« Sie setzte die Kappe auf.
Nebeneinander nahmen sie Aufstellung. Piers stellte seine Armbanduhr, und los ging’s, entgegen dem Uhrzeigersinn auf ihrer üblichen Runde ums Schiff herum, in nicht allzu schnellem Tempo. Ihre Laufschuhe tappten über das polierte Holz des Decks. Natürlich war es immer Piers, der die Uhr stellte, der das Tempo vorgab, der die Kontrolle behielt; Lily hatte es längst aufgegeben, darüber zu diskutieren.
Vor ihnen waren ein paar Spaziergänger, Leute, die Lily flüchtig kannte - nach sieben Monaten auf See kannte sie all die paar Tausend Leute in diesem schwimmenden Dorf »flüchtig«. Lily und Piers unterbrachen ihren Lauf, als sie an den Spaziergängern vorbeikamen, die ihnen lächelnd zunickten. Dies war reibungsreduzierendes Verhalten, das Lammockson stets förderte, ein Übermaß an Höflichkeit, das Lily an Japan erinnerte, wo ebenfalls sehr viele Menschen auf engem Raum lebten.
Als sie das Heck erreichten, sah Lily das lange Kielwasser des Schiffes nach hinten wegströmen, ein Highway, der sich über den Ozean zog.
Sie umrundeten das Heck und liefen auf der Steuerbordseite zurück, vorbei an den Gangways, die zum OTEC-Kraftwerk führten. Das war ein Floß im Wasser, das neben der schnittigen Flanke des Schiffes hergezogen wurde. Der OTEC war Lilys Arbeitsgebiet; sie hatte dort die oberste Verantwortung. Nichts stand in Flammen oder sank, und sie war froh, dass die Anlage eine weitere Stunde ohne sie überleben konnte.
»Irgendeine Ahnung, wo wir sind?«, fragte sie Piers. Sie
hatte schon längst das Interesse an den Details ihrer Reisewege verloren.
»In der Nordsee. Wir fahren nach Süden, zur holländischen Küste. Dann geht’s nach Europa hinein, das Rheintal hinunter, Richtung Schweiz. Vielleicht kriegen wir dort zur Abwechslung mal wieder ein bisschen Gegend zu sehen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Du bist nicht die Einzige, die einen kleinen Gefängniskoller hat.«
Sie überquerten ihre Startlinie. Die Laufstrecke ums Deck war keinen halben Kilometer lang, und selbst in gemäßigtem Tempo brauchten sie nur ein paar Minuten dafür. Sie liefen weiter, absolvierten ihre winzigen Runden.
Piers schnaufte heftig. »Fällt mir ganz schön schwer heute.«
»Liegt vielleicht am Kohlendioxid.«
Der unaufhörliche Anstieg der Kohlendioxidwerte in der Atmosphäre war eine unbestreitbare Folge der Flut, wenngleich kein Klimatologe an Bord war, der den Zusammenhang hätte erklären können. Abgesehen von dem Erwärmungsschub verbrannte saurer Regen die Blätter der Pflanzen in den Gärten und der kleinen Farm des Schiffes, verätzte die Solarpaneele und reizte zuweilen auch ungeschützte menschliche Haut.
»Die jungen Leute scheinen damit keine Probleme zu haben«, sagte Piers. »Aber die haben ja nie welche.«
»Nein. Hast du dich schon mal gefragt, warum wir beide das hier tun, Piers? Warum wir Tag für Tag diesen dämlichen Rundkurs laufen? Wir sind solche Gewohnheitstiere. Herrgott, wir laufen sogar jedes Mal in dieselbe Richtung, gegen den Uhrzeigersinn.«
Piers seufzte. »Du willst jetzt aber nicht tiefsinnig werden, oder?«
»Sieh doch mal den Tatsachen ins Gesicht, Piers. Wir haben fünf Jahre in Kellern gehockt. Jetzt sind wir wieder in einem Gefängnis, und schon laufen wir an den Wänden entlang im Kreis. Als wollten wir die Grenzen unseres Käfigs austesten.«
»Vielleicht versuchen wir
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