Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
sehen.
Sie begannen eine Unterhaltung auf Englisch, die für Sixsmiths Gehilfen auf Chinesisch übersetzt wurde.
»Harry Sixsmith ist auch so einer von Nathans Geschäftskontakten«, flüsterte Piers Lily zu. »Hat früher in Hongkong gesessen, ist aber nach der Übergabe der Kronkolonie aufs Festland gezogen. Ein Engländer, der’s in China geschafft hat.
Er und Nathan haben während des chinesischen Wirtschaftsbooms ein kleines Vermögen mit Immobilienspekulationen gemacht. Angeblich hat er aber auch in Beratergremien der Regierung gesessen, die Vorschläge zur Maßregelung Andersdenkender entwickelt haben.«
»Netter Bursche. Ich verstehe nicht, was die beiden sagen.«
»Vielleicht sind meine Ohren besser«, sagte Jang. »Mr. Lammocksons Freund rät eindringlich davon ab, Ihre Leute nach Tibet zu bringen. Er versucht, Mr. Lammockson diese Idee auszureden, obwohl er persönlich davon profitieren würde.«
»Und warum sollte er das tun?«, fragte Piers leise.
Jang sah ihn ausdruckslos an. Aber Piers’ Satellitentelefon klingelte, bevor er etwas darauf erwidern konnte, und Piers ging davon und sprach leise in den Apparat.
»Sagen Sie’s mir«, wandte sich Lily an Jang.
»Dies war ein Kampfgebiet. Das wissen Sie. Russen, Chinesen und Inder haben einen strategischen Krieg um dieses Territorium ausgetragen, als das ganze Ausmaß der Bedrohung durch die Flut deutlich wurde. Dabei sind auch Atomwaffen zum Einsatz gekommen. Die Einheimischen - Nepalesen und Tibeter - sahen sich einer Invasion von drei Seiten ausgesetzt, sie mussten Mittel und Wege finden, um zu überleben, sonst wären sie ausgelöscht worden. Es gab enorme Verluste an Menschenleben. Am Ende bildete sich eine neue Regierung heraus, eine maoistische Hardliner-Fraktion - im Grunde Chinesen, aber nicht mit der Regierung in Peking verbündet. Die Maoisten werden von einigen Russen, Indern und auch von Abendländern unterstützt, wie Sie sehen - sogar von Nepalesen, ihren früheren Feinden. Seit die neue
Regierung die Macht errungen hat, hat sie Feldzüge gegen die Menschen in ihrem Machtbereich durchgeführt. Säuberungen. Indoktrinationskampagnen. All das in einer Landschaft, die aufgrund ihrer Höhenlage unfruchtbar ist und die von der Strahlung verseucht wurde. Trotzdem können die Maoisten denen, die hierherkommen, alle beliebigen Bedingungen auferlegen. Harry Sixsmith erzählt Mr. Lammockson soeben, dass man einen Zehnten von ihm verlangen wird, wenn er die Besatzung seiner Arche hierherbringt.«
Lily trat näher, um es mit eigenen Ohren zu hören. Lammockson bot Technologie an, seine hoch entwickelten Herstellungstechniken, seine norwegische Samenbank. Aber Sixsmith sagte, die Maoisten seien nicht an Samenbanken interessiert. Der Zehnte müsse in Form von Drogen, Waffen und Frauen entrichtet werden. Und in »Unterklasse«.
»›Unterklasse‹?«, wandte sich Lily an Jang.
»Es gibt Gerüchte, dass den Flüchtlingen noch drastischere Zehnte auferlegt werden. Dies ist ein armes, übervölkertes Land. Wie sollen sie alle ernährt werden?« Jang sah sie unverwandt an.
»Kannibalismus?« Lily atmete tief durch. »Davon haben wir gehört. Verzweifelte Gemeinschaften, die auf Hochlandinseln gestrandet sind …«
»Hier gibt es keine Verzweiflung, jedenfalls nicht bei den Herrschenden. Die Maoisten haben sich als theoretische Rechtfertigung die Kastenideen der Hindus zu eigen gemacht. Hier wird Menschenfleisch systematisch als Nahrung genutzt.«
Lily starrte Sixsmith an. »Jang, warum haben Sie uns nichts davon erzählt, bevor wir hierhergekommen sind?«
»Sie haben nicht danach gefragt. Ich bin nur ein Sherpa. Und Sie hätten es wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt, wenn Sie es nicht mit eigenen Ohren gehört hätten.«
»Aber Sie wussten es.«
Er lächelte. »Wir Nepalesen denken an die Zukunft. Der Anstieg des Meeresspiegels beträgt mehr als einhundert Meter pro Jahr. Kathmandu liegt jetzt nur noch vierhundert Meter über dem Meer. Wo soll ich in vier, fünf oder sechs Jahren hin? Vielleicht stehe ich dann hier, mit dem Tuch meiner Mutter vor dem Mund, und bitte um Einlass in dieses ideologische Utopia.«
Lammockson kam von Harry Sixsmith zurück. »Heiliger Strohsack«, sagte er mit finsterer Miene.
»Wir haben genug gehört«, erklärte Piers grimmig.
»Harry hat selbst den Hals riskiert, um herzukommen und uns zu warnen. Und er hat ihn ein zweites Mal riskiert, indem er die Wachposten überredet hat, uns gehen zu lassen. So
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