Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
sechzig, siebzig Jahren, vielleicht ein gealtertes Liebespaar. Da war der »alleinstehende Vater«, dünn, von Sorgen gezeichnet, stark
tätowiert, nicht älter als fünfundzwanzig, mit dem ramponierten Einkaufswagen voller Colaflaschen, die er für seine drei kleinen Kinder füllte. Da waren die »Yuppies«, ein gestresst aussehendes junges Paar mit tief in den Höhlen liegenden Augen, das erlebt hatte, wie sich ihre Jobs in der City in Luft auflösten, und das den erfolgreichen, koffeingespeisten Lebensstil zugunsten durchweichter Almosenempfängerschlangen wie dieser hatte aufgeben müssen. An diesem Morgen beklagten sich die beiden über die Schwierigkeit, sich Geld zu beschaffen, weil die Geldautomaten die meiste Zeit außer Betrieb waren und die Kreditkartenleser in den Geschäften und Kaufhäusern nur selten funktionierten.
Niemand blickte die Straße entlang. Niemand schenkte dem ausgedehnten, stillen See, der dort im Morgenlicht schimmerte, die geringste Aufmerksamkeit, obwohl dieser Anblick jedermann noch vor ein paar Wochen in Erstaunen versetzt hätte. Dies war nicht der Fluss, sondern streng genommen die »Hammersmith-Bucht«, eine weitläufige Senke, in der das Hochwasser hinter einem höheren Wall gefangen war. An seinem Rand glitt die Straße einfach ins Wasser, der Bürgersteig, die Straßenschilder und Verkehrsampeln versanken darin, und kleine Wellen plätscherten gegen die Türen verlassener Häuser und Läden.
Die Schlange rückte quälend langsam vor. So war es immer - der einzelne Hahn war knauserig. Lily fand es bemerkenswert, wie viel Zeit man jetzt mit den elementarsten Dingen des Lebens verbrachte, Wasser nach Hause zu schleppen, sich im Supermarkt für die an diesem Tag gerade erhältlichen Nahrungsmittel anzustellen oder zu Fuß zur Arbeit zu
gehen, wie es Amanda jeden Morgen tat, ein Weg, der früher Minuten gedauert hatte und sich jetzt über Stunden hinziehen konnte.
Aber Lily war fähig, das zu ertragen. Sie schien in jenen langen, leeren Tagen in Barcelona - insbesondere während ihrer Einzelhaft - so etwas wie eine seelische Disziplin entwickelt zu haben. Es gelang ihr mit Hilfe der konstruktiven Teile ihres Geistes, Zeiten der Leere - Stunden, ganze Tage - wartend zu überstehen; sie konnte ihren Fluchtreflex abschalten, wie ein Psychologe nach der Befreiung zu ihr gesagt hatte.
Allerdings war es heute nicht so schlimm. Sie fand es erstaunlich, wie sich die allgemeine Laune hob, wenn die Sonne schien. Die Londoner, die in dieser englischen Straße schmutzig und gleichmütig Schlange standen, waren durchaus guter Dinge. Viele von ihnen sahen hoffnungsvoll auf Handys, die immer noch fast den ganzen Tag lang keinen Empfang hatten. Manche pfiffen vor sich hin oder plauderten miteinander, andere starrten geistesabwesend ins Leere, während die Angels in ihren Köpfen flüsterten, und um sie herum glänzten die roten Schindeln der Dächer ihrer dicht an dicht stehenden Vorstadthäuser im Sonnenschein.
Kristie summte mit der glasigen Miene einer Angel-Benutzerin vor sich hin - obwohl die nur gespielt war, denn Lily wusste zufällig, dass ihr Angel an diesem Morgen nicht funktionierte; Kristie hatte vergessen, ihn ans Ladegerät anzuschließen, als am vergangenen Abend der Strom eingeschaltet worden war. Lily verspürte eine jähe Aufwallung von Zuneigung. Ihre Nichte gehörte zu einer Generation, die lernen musste, ein auf die elementaren Dinge reduziertes Leben
zu führen, einer Generation, für die Worte wie »Wassertank«, »Abwasser« und »Triage« viel wichtiger wurden als »E-Mail«, »Handy« und »Angel«. Die Überschwemmung mit all ihren Folgen hatte zahllose Leben wie das von Kristie überspült, dachte sie, ein kosmischer Eingriff in die ohnehin schon verwickelten Geschichten von Eltern und Kindern, Liebespaaren und Feinden. So ähnlich, vermutete sie, wie ihre eigene plötzliche Auferstehung aus der Vorhölle sie in den Schoß von Amanda und ihren Kindern geworfen hatte. Lily wollte Kristie erneut die Haare strubbeln, verwarf es aber dann als zu kindisch.
Endlich erreichten sie die Spitze der Schlange und bückten sich, um ihre Flaschen und Eimer zu füllen. Als sie fertig waren, stapften sie wieder nach Hause. Wasser war immer unverhältnismäßig schwer, aber sie hatten ein gutes System ausgearbeitet: Der Besenstiel verteilte die Last auf die Schultern, die Gartenhandschuhe schützten die Hände, in denen sie die schweren Einkaufsnetze hielten. So mühten sie sich
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