Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
aus Backstein, Beton, Stahl und Glas. Ein erhöhter Abschnitt einer Straße stieg empor, eine Brücke, die nirgendwohin führte; reglose Autos waren auf ihrem Rücken gestrandet. Die verbliebene Bevölkerung klammerte sich an Flecken des höher gelegenen Geländes, Inseln, die aus dem Wasser ragten. Auf einer sah Lily winkende Kinder, auf einer anderen einen Hubschrauber, der auf dem Sportplatz einer Schule stand. Das Themsetal hatte sich in einen Archipel verwandelt.
Piers zeigte ihr eine Kartenskizze, die auf Satellitenbildern des aktuellen Flussverlaufs basierte. »Das Wasser hat sich in diesen ›Buchten‹ gesammelt, wie du siehst. Sie werden ›eigenständige hydrologische Einheiten‹ genannt.« Die Buchten waren Lagunen, plötzlich entstandene, an sich schon spektakuläre Elemente der Stadtlandschaft und teilweise mehrere Kilometer lang; sie trugen die Namen der Gebiete, die sie bedeckten: Hammersmith, Westminster, Bermondsey, Isle of Dogs, Greenwich. »Diese hydrologischen Einheiten sind mehr oder weniger durch Zungen hoch gelegenen Landes voneinander getrennt, wenn auch häufig durch Tunnel, Abwasserkanäle und dergleichen miteinander verbunden. Die gute Nachricht ist, dass eine Überschwemmung in
einem Gebiet nicht unbedingt eine Überschwemmung woanders impliziert. Die schlechte Nachricht ist, dass man sie alle trocken pumpen muss, weil das Wasser nicht auf natürliche Weise abfließen wird …«
Unter der Wandsworth Bridge sahen sie einen Polizisten, der eine Gruppe Jugendlicher davon abhielt, schwimmen zu gehen. Der Marinesoldat schüttelte missbilligend den Kopf. »Kaum scheint mal die Sonne, wollen die Leute schon ins Wasser, trotz der treibenden Leichen und der Exkremente und so weiter.«
»Zivilisten, hm, Harry?«, sagte Piers. »Aber man sollte es ihnen nicht verdenken. Viele Menschen machen jetzt einfach Blödsinn. Man kann mit dem Motorboot in die Westminster Hall hineinfahren, wisst ihr. Soweit ich gehört habe, wird die schon seit dem dreizehnten Jahrhundert immer mal wieder überschwemmt. Oder man unternimmt eine Gondeltour durch Soho. Und in der City fahren die Finanzgenies Wasserski um die Wolkenkratzer.«
Lily musterte ihn. »Du wirkst ziemlich optimistisch, Piers. Ich will nicht in alten Wunden bohren, aber in Barcelona warst du nicht gerade ein sonderlich entspannter Typ.«
Piers versteifte sich ein bisschen, lächelte jedoch. »Tja, das sagen mir die Seelenklempner auch immer, wenn sie mich in die Finger kriegen. Aber es ist einfach so schön, draußen zu sein, nicht wahr? Das kommt mir immer deutlicher zu Bewusstsein, glaube ich. Obwohl wir in dem Moment, als wir aus dem elenden AxysCorp-Chopper gestiegen sind, auch schon mittendrin in der Krise waren.«
Sie wusste, dass er geschieden war, keine Kinder und auch keine anderen Angehörigen hatte, die er besuchen, kein richtiges
Zuhause, zu dem er zurückkehren konnte. Vor seiner Entführung war er eine hochrangige Figur in militärischen und diplomatischen Kreisen gewesen; deshalb hatte er ursprünglich auch versucht, sich in Spanien als Friedensvermittler zu betätigen. Jetzt, nach seinem seltsamen, heldenhaften, dämonenaustreibenden Abenteuer auf der Isle of Dogs, von dem er ihr ausführlich erzählt hatte, schien er bereit zu sein, sich wieder mit seiner ureigenen Welt zu befassen, und sie war froh zu sehen, dass er mit seinen Aufgaben zurechtkam.
»Was die Überschwemmung betrifft«, sagte er jetzt, »so gehen wir gerade in eine neue Phase über. Den Dauerzustand. Harte Entscheidungen müssen getroffen und ausgeführt werden. Und ich fange gerade an, meine paar Gehirnwindungen um das Thema zu wickeln. Ziemlich therapeutische Angelegenheit, finde ich.«
Während sie sich unterhielten, fuhren sie unter weiteren Londoner Brücken hindurch. Als sie sich der Chelsea Bridge näherten, sah Lily die Türme des Elektrizitätswerks von Battersea trotzig über dem Wasser aufragen.
»Was für harte Entscheidungen?«, fragte sie.
Er sah sich um, als könnte jemand mithören. »Das Schlimmste kommt erst noch, ob du’s glaubst oder nicht. Die Versorgungsbetriebe arbeiten mit Hochdruck daran, die Elektrizitätswerke und Wasseraufbereitungsanlagen wieder in Gang zu bringen und all so was. Wir führen die kurzfristigen Rettungsoperationen weiter - in den überschwemmten Gebieten müssen beispielsweise zwanzig Krankenhäuser evakuiert werden. Wir haben auch viel zu viele provisorische Sammelzentren noch nicht aufgelöst, da sitzen alte
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