Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Abseits der zentralen überschwemmten Gebiete sah Lily dünne, fast reglose Autoschlangen auf den verstopften Hauptverkehrsadern und Einsatzfahrzeuge, die mit blinkendem Blaulicht gegen den Strom zum Katastrophengebiet fuhren. Es war ein Juliabend und noch hell, aber sie konnte die Bezirke erkennen, wo der Strom ausgefallen war; dort leuchteten keine Straßenlaternen, und Reklamewände standen stumm und dunkel da. Sie hatte einen AxysCorp-Handheld, und der kleine Bildschirm zeigte ihr hektische Bilder von Soldaten, die in aller Eile Schlüsseleinrichtungen zu retten versuchten; das Königliche Pionierkorps und das Königliche Logistikkorps bauten Dämme und mühten sich ab, das Wasser mit Hilfe von Pumpen aus Umspannwerken und Wasseraufbereitungsanlagen fernzuhalten. Auf Londons Schwemmebene drängten sich nicht nur Büroblocks, Geschäfte und Wohnhäuser, sie beherbergte auch die zentrale Infrastruktur der Stadt, sogar Krankenhäuser und Polizeireviere.
Der Handheld piepste und zeigte eine Schlagzeile, in der es nicht um London ging. Die Nachricht stammte aus Sydney. Dort waren die Wasserfluten tief ins Stadtzentrum vorgedrungen. Die Behörden bemühten sich, eine geregelte Evakuierung nach Westen entlang der Route des Highway Four zum höher gelegenen Gebiet jenseits des Nepean-Flusses zu organisieren, das rund dreißig Kilometer westlich der Stadt lag. Noch weiter westlich, in den Blue Mountains, wurden Auffanglager eingerichtet. Die australische Regierung
sei in enormen Schwierigkeiten, meinten die Kommentatoren. Noch nie sei das Land von einem solchen Schicksalsschlag getroffen worden.
Überschwemmungen in Sydney und London, dachte Lily, Hochwasser auf beiden Seiten der Welt. Wie seltsam.
»Wow«, brummte der Pilot, »sehen Sie sich das an.« Der Chopper beschrieb eine weitere Kurve.
Lily legte den Handheld weg und blickte hinaus.
Sie flogen am Eye vorbei, einer kreisrunden Glasperlenkette. Es bewegte sich nicht mehr; sein Unterteil stand im Wasser. Man erkannte deutlich Menschen, die in den Gondeln gefangen waren, winzige Strichmännchen, wie Fliegen in Bernstein. Und jenseits der Themse sah Lily Boote, die sich um den Palace of Westminster drängten, wie Forscher, die vorsichtig auf Sandsteinklippen zuhielten.
Mit einem Mal überwältigte sie das schiere Ausmaß der Katastrophe. Sie sah weg, wischte sich mit einer behandschuhten Hand über das Gesicht, rieb sich die Augen.
Die alte Dame, die sie gerade festgeschnallt hatte, langte herüber und tätschelte ihr die Schulter. »Na, na, Schätzchen. Das kommt schon wieder in Ordnung, Sie werden sehen.«
Der Hubschrauber schoss erneut vorwärts und legte sich in die Kurve, geschüttelt vom nicht nachlassenden Sturm.
19
Aus Kristie Caistors Sammelalbum:
Drei Tage nach der Überschwemmung schnitt Kristie einen Bericht der BBC News 24 über die Versuche mit, Tausende von Menschen zu retten, die aufgrund von Stromausfällen seit Tagen in elektronisch verschlossenen Londoner Hotelzimmern festsaßen. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das allein schon ein schwerwiegendes Ereignis gewesen. Kristie fand es komisch.
20
AUGUST 2016
Kristie hatte an diesem Morgen Ausguckdienst. »Der Wassermann ist da!« Sie lief eilig die Treppe herunter. Die Holzsohlen ihrer Clogs polterten laut über die bloßen Dielen. Es war noch nicht ganz sieben Uhr.
Amanda war fast schon auf dem Weg zur Arbeit. Sie trug ein zerknittertes Kostüm, das eine chemische Reinigung nötig gehabt hätte, robuste Wanderstiefel und wasserfeste Gamaschen. Fürs Büro hatte sie sich leichtere Schuhe in die Rucksacktasche gesteckt. In einer Hand hielt sie eine Tasse Kaffee, die letzten Reste aus der Thermoskanne vom Vorabend. Sie zuckte zusammen, als Kristie die Treppe heruntergeschossen kam. »Herrgott, Kris, musst du solchen Lärm machen?«
Kristie, elf Jahre alt, war viel zu lebhaft, um sich darum zu scheren. Sie stöberte in dem Haufen Eimer und Plastikflaschen neben der Tür. »Komm, Tante Lily, wir beide sind dran.«
Lily steckte sich ein letztes Stück Brot in den Mund, stand vom Tisch auf und ging zur Tür. Auf den aufgequollenen Dielen fühlten sich ihre bloßen Füße kalt an. Sie schlüpfte in ihre Gummistiefeletten und griff nach den Einkaufsnetzen mit den leeren Flaschen. Kristie legte sich ihr improvisiertes »Tragjoch« auf die Schultern, einen Besenstiel, der mit einer
alten Decke gepolstert war und zwei Plastikeimer trug. »Ich dachte, heute Morgen wäre Benj an der Reihe«, sagte
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