Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
Schale am Horizont aus, und ihr fiel wieder der Sturm ein, der ihr Flugzeug vom Kurs abgebracht hatte.
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Aus Kristie Caistors Sammelalbum:
Den präzisen Informationen in seinem Blog zufolge wurde Harrison Gelertner in San Francisco geboren, wuchs dort auf und verbrachte sein gesamtes Arbeitsleben als auf Bürgerrechtsfälle spezialisierter Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt. Er bereiste die ganze Welt - dank der Vorliebe seiner Gattin fürs Exotische führten ihn diese Reisen jedoch fast immer ins Ausland; nur selten war er im eigenen Land unterwegs.
Im Alter von fünfundsechzig Jahren setzte sich Gelertner zur Ruhe. Mit achtundsechzig war er auf einmal allein, als seine Frau dem Krebs erlag; es ging schnell, und es war ein Schock für ihn. Und mit neunundsechzig Jahren stellte er fest, dass große Teile von Amerika, dem Land, das er nie gesehen hatte, rasch vom Hochwasser verschlungen wurden.
Er entschloss sich, die Lücke in seinen Erfahrungen zu schließen, solange er noch gesund und wohlhabend genug war - und solange es noch ging. Er beschloss, ganz oben anzufangen: in Washington D.C.
So flog er im Februar 2018 mit einer Maschine der American Airlines zum Washington National Airport. Es stellte sich heraus, dass dies einer der letzten zivilen Flüge war, die diesen Flughafen jemals erreichten.
Auf den ersten Blick war Washington nicht sonderlich beeindruckend. Es kam Gelertner wie eine x-beliebige amerikanische Kleinstadt vor, und wie eine schäbige obendrein, schmutzig und dreckig und im Sommer offenbar unerträglich heiß, obwohl das Wetter an diesem frischen Februartag durchaus angenehm war. Die Überschwemmungen waren bereits deutlich sichtbar, das Wasser quoll aus den Gullys und rann über die Bürgersteige; es war schwierig, zu Fuß zu gehen. Sirenen heulten, und überall staute sich der Verkehr. Es herrsche eine Atmosphäre der Anspannung, des allmählichen Zerfalls, vermeldete er in seinem Blog, alles sei schmuddelig und in Auflösung begriffen.
Doch dann bog er um eine Ecke und stand vor dem Weißen Haus, einfach so; das Machtzentrum des Planeten lag praktisch mitten in Downtown. Den Nachrichten im Angel-Radio zufolge - sein Enkel hatte ihm gezeigt, wie man das Gerät benutzte - waren die Präsidentin und ihre Regierung schon längst geflohen. Aber die Demonstranten waren noch da, eine zerlumpte Bande, die gegenüber den Toren Aufstellung genommen hatte und sich auf Transparenten über Steuern, Auslandskriege und Ungerechtigkeiten bei der Hochwasserhilfe beklagte. Und die Zentralen anderer wichtiger Institutionen - des FBI, der NASA und der Weltbank - waren nur ein paar Blocks entfernt. Die Stadt war irgendwie zu klein für ihre Bedeutung.
Gelertner ging zur Rasenfläche der Mall, wo das Washington Monument stand, hoch aufragend und schlank. Er orientierte sich: Im Osten war das Capitol, das Lincoln Memorial stand im Westen. Das durchweichte Gras gab unter seinen Lederschuhen nach. Zwar konnte er das Lincoln
Memorial nach Lust und Laune erkunden, aber das Capitol war für Besucher geschlossen. Und er stellte enttäuscht fest, dass die diversen Smithsonian-Museen ebenfalls geschlossen waren, obwohl um sie herum hektische Aktivität herrschte: Das Personal verpackte wertvolle Exponate für den Umzug.
Er hatte nur eine vage Vorstellung von der fortschreitenden Überschwemmung. An diesem Abend zeigten die Fernsehnachrichten erschreckende Bilder und Karten, aus denen die bedrohliche Lage Washingtons hervorging; der steigende Ozean war in die Chesapeake Bay vorgedrungen und staute den Potomac in die Stadt zurück. Er hätte nicht gedacht, dass D.C. in solch unmittelbarer Gefahr schwebe, aber da könne man nichts machen, schrieb er in seinem Blog.
In der Nacht wurde er von einem Feueralarm geweckt. Das Hotel musste geräumt werden.
Gelertner hatte sein Flugticket, erfuhr jedoch, dass der Flughafen geschlossen war. Im Ungewissen darüber, was er tun sollte, blieb er, wo er war. Am späten Vormittag fand er sich in einer Schar größtenteils schwarzer und größtenteils armer Familien wieder; sie warteten auf einen beschlagnahmten Schulbus, der sie auf höher gelegenes Gelände bringen sollte. Finster dreinschauende Wachleute des Heimatschutzministeriums sorgten dafür, dass die Menschen bei den Gruppen blieben, denen sie zugeteilt worden waren, und die Konvois nicht gefährdeten, die bereits unterwegs waren und die verbliebenen Mitarbeiter der Bundesregierung, hochrangige Konzernmanager und reiche
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