Die letzte Flut - Die letzte Flut - Flood
schon einmal über Nathan Lammockson und seine großen Gesten gesprochen, Lily …« Piers tat einen Schritt vor, und sein Blick verlor sich zwischen den schlammfarbenen Zelten. »In meinen Augen ist das hier die wahre Arbeit der Katastrophenbewältigung, wie sie Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Polizisten und gewaltige Mengen von Freiwilligen leisten, eine niemals endende Aufgabe, den Menschen Unterkunft, Nahrung und Wärme zur Verfügung zu stellen und sie vor Krankheiten zu schützen - die Aufgabe, Leben zu bewahren, und zwar jedes einzelne. Meines Wissens hat es in den sechs Wochen seit der Einrichtung dieser Zeltstadt schon Hundert Geburten und noch mehr Todesfälle gegeben. Das ist die Realität . Aber solche Projekte wären niemals glamourös genug, um Nathan Lammocksons Interesse zu wecken.« Er straffte sich. »Na schön, gehen wir weiter.«
Piers führte sie nach Osten zurück, aber diesmal überquerten sie den Broadway, liefen durch NoHo zur Bowery und dann wieder nach Süden, durch Little Italy und Chinatown.
Thandie zufolge gingen sie dabei auf einem weiteren Engpass zwischen zwei Überschwemmungsgebieten entlang - im Westen stand SoHo unter Wasser, im Osten ein großer
Teil der Lower East Side. Hier gab es keine zur Besiedlung geeigneten Grünflächen und keine auf den ersten Blick erkennbaren Flüchtlingslager, aber in den Wohnvierteln herrschte eine angespannte Stille. Piers sagte, hier habe - in einer Katastrophennacht vor Weihnachten - das Chaos geherrscht, als der Pegel der Flüsse die Höhe von zehn Metern überschritten habe. Ströme von Flüchtlingen aus der East Side, viele von ihnen Einwanderer der ersten Generation, hätten sich in ein wenige Blocks großes Gebiet ergossen, in dem sich bereits eine ethnisch durchmischte Gemeinschaft zusammendrängte. Die meisten von ihnen seien inzwischen in den Norden evakuiert worden.
Die Gruppe ging die Park Row entlang und gelangte zum Civic Center am Fuß der langgestreckten Auffahrt zur Brooklyn Bridge. Hier fanden sie eine weitere urbane Küste vor, wo die Straße im Wasser versank.
»Das war’s dann wohl«, sagte Thandie und klappte den Bildschirm an ihrem Ärmel ein. »Südlich von hier steht alles unter Wasser.«
Die Sonne stand jetzt tief, und Lily musste die Augen beschirmen, um die dicht gedrängten Gebäude des Financial District zu sehen, von der ein paar Blocks entfernten gotischen Fiale des Woolworth Building bis zu den glänzenden neuen Türmen des World Trade Center im Südosten, allesamt beherrscht von der ungewöhnlichen Keilform des höchsten Gebäudes, des Freedom Tower. Doch obwohl die verschatteten Schluchten am Fuß der Hochhausblöcke überflutet waren, zeigten sich Lichter in den Fassaden, und auf dem Wasser herrschte ein reges Treiben. Zahlreiche Boote glitten zwischen den Gebäuden hin und her.
»In der Wall Street wird also noch gearbeitet«, sagte Thandie.
»Ja«, erwiderte Piers. »Großenteils Stilllegungsmaßnahmen. Sie motten alles ein und verlegen die Funktionen woandershin. Aber es ist gut fürs Unternehmensimage, in der Katastrophenzone, aus der man Gewinn schlägt, präsent zu sein.«
»Und im Freedom Tower …«, begann Gary.
»… hat Nathan Thandies Auftritt vor dem Weltklimarat organisiert«, ergänzte Piers. »Eines muss man ihm lassen, Sinn für Showeffekte hat er. Obwohl das Denkmal natürlich überschwemmt ist.«
Thandie beschattete die Augen. »Ist Jahre her, dass ich hier war. Ich bin sicher, die Skyline sieht anders aus.«
»Hin und wieder stürzt ein Gebäude ein«, erklärte Piers. »Sie stehen zwar alle auf gutem Manhattan-Schiefer, aber die Kellergeschosse sind unterspült, und die Fundamente sind nicht darauf ausgelegt, dauerhaft in Salzwasser zu stehen. Und dann kommt ein Sturm, und … nun ja. In der Regel gibt es nur wenige Todesopfer, die Leute werden ausreichend vorgewarnt. Wenn die Gebäude nachgeben, explodieren sie, wisst ihr, die Stahlseile innerhalb der Stahlbeton-Konstruktionen stehen unter Spannung.«
»Und wie kommen wir da rüber?«, fragte Thandie. »Sollen wir schwimmen?«
»Es gibt hier ein AxysCorp-Boot. Ich rufe es her.« Piers trat ein paar Schritte zur Seite und sprach dabei in die Luft. Währenddessen näherte sich der Bodyguard, der sie auf der ganzen Strecke vom Central Park bis hierher begleitet hatte, und nickte ihm zu.
Eine Brise zerzauste Lilys Haare. Sie blickte nach Osten, zum Meer. Wolken jagten über den Himmel, breiteten sich wie eine große
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