Die letzte Flut
nur…
Hilfe.
Noah ging durch den strömenden Regen nach vorn und blieb am Bug der Arche stehen.
Der Wind hatte nachgelassen, aber auch so war die gesättigte Luft kalt genug. Nebel zog über dem Meer herauf und man merkte kaum, wie sich die Arche vorwärts bewegte. Als er hinunterschaute, sah er das ansteigende Wasser, ruhig und pockig vom Regen, und die wogende Masse des Schiffs, worauf er stand, machte kaum Lärm, nur das Geräusch seines Gewichts war zu hören, als es sich hob und senkte. Noah wischte sich die Augen mit seinem Taschentuch und starrte – Allererster Admiral sämtlicher Ozeane – hinaus auf die Nebelbank.
Von unten drangen die Rufe der Elefanten und die Schreie der Lemuren, das Meckern der Ziegen und das Gegacker der Eier legenden Hennen zu ihm herauf. Und über ihm und um ihn herum – draußen auf dem Wasser – kreischten die Seevögel, und die großen Piratentiere schienen zu singen. Aber es waren keine menschlichen Stimmen darunter – keine einzige. Und niemals, niemals, niemals die Stimme Jahwes…
Sagt mir, betete er – und machte die Augen fast zu, in der Hoffnung, wenn er sie wieder aufmachte, wäre ein Wunder geschehen –, werdet Ihr auf dem Wasser gehen? Werdet Ihr in der Luft schweben? Wo werdet Ihr wieder in Erscheinung treten? Wo kann ich Euch als Nächstes suchen? Wo seid Ihr jetzt?
Noah schaute hinauf – neigte den schwarzen Regenschirm über seine Schulter –, ließ den Regen auf sein Gesicht und durch seinen Bart fallen. Aber da war nichts. Und niemand. Er drehte sich um und musterte das Deck hinter sich – suchte den Umriss des Kastells, der Pagode und des dahinter liegenden Arsenals und die gebogene Lippe der Reling des Afterdecks ab. Alles war in Nebel gehüllt und jede Fläche war ausgefüllt mit den Gestalten von Vögeln – sonst nichts, sonst niemand.
In der Luft hing der übelste Geruch von Fisch und Mist und menschlichen Abfällen, und sogar das Meer stank verfault, vielleicht nach verwesenden Leichen.
Noah wandte sich wieder dem Bug zu und nahm sich vor, nicht mehr auf das Wasser unter ihm zu schauen, er wollte nicht noch einmal sehen, was dort war. Stattdessen richtete er seinen Blick auf die Nebelbank, die auf ihn zurollte.
Sein früherer Verdacht, dass Jahwe müde sei und sich ins Land des Schlafes zurückgezogen habe, ging nun in den beunruhigenden Gedanken über, dass ihm vielleicht mehr fehle als nur Erschöpfung. Was wäre, wenn Jahwe krank wäre? Wirklich krank. Könnte Jahwe sterben?
Es war unvorstellbar.
Doch die Sintflut war auch unvorstellbar gewesen – nicht mehr als ein Pfennig und eine Flasche, nichts als ein kindisches Kunststück. Aber hier war sie jetzt: in ihrer ganzen Fülle.
Der Nebel verdeckte die Arche allmählich, und der Gestank toter Kreaturen wurde fast greifbar. Die drückende Stille des Universums schwoll an, wurde gewaltiger als Vogelgeschrei und Tiergebrüll – und sie drückte gegen Noahs Ohren, bis er dachte, sie würden gleich platzen. Und die unheimlichen Lichter, die den Nebel durchzogen, weckten in ihm ein Verlangen, die Sonne zu sehen und zu fühlen, die Sonne, die sie weder gesehen noch gefühlt hatten seit… Er konnte nicht sagen, seit wann. Seit Menschengedenken – schien es zumindest.
Er war einsam. Sehnte sich nach der Sonne. Nach allem, was gewesen war, aber jetzt nicht mehr existierte. Sein Körper in seinem hohen und furchtbaren Alter schmerzte ihn. Seine Knochen waren jetzt so spröde wie Zuckerstangen. Seine Füße waren wie Steine und Kiesel in seinen Slippern, und seine Robe mit dem Gewicht der vielen Schichten und der Feuchtigkeit war unerträglich schwer. Er bräuchte – wie Methusalem – zwei junge Männer, um ihn an den Ellbogen aufrecht zu halten; Frauen, die seine Ärmel und seinen Regenschirm hochhielten; andere Frauen, um ihn zu streicheln und zu trösten – ihm den Tisch zu decken und seine Betttücher aufzuschlagen – sein Bad einzulassen und ihn zu waschen –, jemanden, der seine Hände hielt und seine Beine rieb und wiederbelebte. Er brauchte jemanden, der den Löffel hielt und ihn an seine Lippen führte…
Er bräuchte Frauen und Töchter – aber er hatte nur Sem und Ham und Japeth. Und sie. Diese Frau!
Und einen stummen Gott, der einfach nicht erscheinen wollte.
Noah unterdrückte seine zunehmende Panik und sagte laut: »Ich werde nicht sprechen.« Furchtbare Bilder von Weite und endlosem Nebel, in dem die Arche für immer treiben könnte, zogen durch seine Gedanken – und
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