Die letzte Flut
sich hin, ohne den Rücken zu krümmen. Sie hob das Einhorn an ihre Brust und hielt es mit einer behandschuhten Hand fest; mit der anderen Hand bedeckte sie seine Augen.
»Nehmt es euch nicht zu Herzen!«, sagte sie. »Nehmt es euch nicht zu Herzen!« Dann stand sie auf.
Mrs Noyes streckte ihre Finger aus, um den Körper ihres Freundes zu berühren, brachte es aber nicht fertig. Ihre Hand zog sich zurück, bevor sie ihr Ziel erreichte. Wie klein es war! Das Einhorn. Wie klein in ihrer Hand.
Luci begann zu laufen – fast ziellos – folgte sie dem Gang – ließ die Vogelgalerie hinter sich – schlängelte sich durch das Labyrinth der Insektenkäfige und Reptilientanks, bis sie das erreichte, was man den Stall nannte. Dort waren die Rinder, Schafe und Ziegen untergebracht, die Tiere, die laut Edikt nicht in Gruppen zu »zwei und zwei«, sondern zu »sieben und sieben« an Bord der Arche gebracht werden sollten – die entbehrlichen Tiere, deren Junge vor dem Auftauchen der Piraten so viel Futter für die Fleischfresser geliefert hatten. Eines Tages würden auch sie – sobald Land in Sicht war – geopfert werden.
Der Geruch von Stroh, Heu, Hafer und Gerste erfüllte den Stall mit unauslöschlichen Erinnerungen an die Erde und an die Stallungen dort, und an all die anderen, die diese Stallungen einst bewohnt hatten und jetzt für immer verloren waren: an Lili und Hannibal, die Pferde; an die Katze Panik; an den Chor der Schafe; an die Hennen; an die Eulen und an alle Rinder, Ziegen und Schweine, deren Leben den Händen der Familie anvertraut waren: beim Melken, Füttern und Schmusen, damit sie die geheimen Stellen preisgaben, wo Minze und Trüffeln wuchsen. Im Stall musste Mrs Noyes unweigerlich an alle Tage und Nächte, an alle Krankheiten denken, die sie jemals dort erlebt hatte, an alle Geburten und an alle Todesfälle, die sich in jenen Stallungen in ihrem Beisein ereignet hatten: Hebamme für die Welt – und sie liebte diese Aufgabe. Aus all diesen Gründen erinnerte sie der Stall, mehr als jeder andere Ort auf der Arche, am ehesten an zu Hause.
Luci setzte sich neben den Rindern auf einen Haufen Heu und legte das Einhorn, zusammengerollt, auf ihren Schoß.
Mrs Noyes war verschwunden, aber Luci sagte: »Sie ist nur weggegangen, um Mottyl zu holen.«
Sie hatte Recht. Drei Minuten später erschien auch Mrs Noyes im Stall; sie hielt Mottyl an ihre Schulter gedrückt und wurde überraschend von einem weiteren Gast begleitet.
»Ich bin über Japeths Kopf hereingeflogen, als er versucht hat, die Tür zu schließen«, erklärte Krähe. »Er wurde vom Regen geblendet und hat mich nicht gesehen.«
Obwohl der Tod des Einhorns auch sie traurig machte, fing Mottyl an zu schnurren, als sie die Stimme ihrer alten Freundin hörte. Mrs Noyes setzte sie auf dem Stroh am Boden ab und Krähe ließ sich neben ihr nieder.
»Du riechst nach etwas«, flüsterte Mottyl.
»Nach Kirche«, flüsterte Krähe.
»Es tut gut, dich zu hören.«
»Es tut gut, dich zu sehen.«
Alle schwiegen.
Die Laterne baumelte dort beim Schafverschlag, wo Ham sie hingehängt hatte, und der ferne Lärm des Regens klang wie Kinderfinger, die aufs Dach trommelten, und das einzige andere Geräusch war das der Arche selbst, die sich auf dem immer tiefer werdenden Wasser hob, senkte und wieder hob.
Langsam – und so leise, dass der Klang ihrer Stimme zunächst kaum hörbar war – begann Luci zu sprechen.
Ihre Worte schienen für das Einhorn bestimmt, denn ihr Kopf beugte sich beim Sprechen weiter über das Geschöpf auf ihrem Schoß. Der Rücken des Einhorns war den anderen zugewandt, sein blutiger Kopf war nach innen gebogen wie der Kopf eines schlafenden Kindes. Lucis eine behandschuhte Hand ruhte auf seiner Seite, die Finger griffen in das ziegenartige Fell.
»Glaub mir«, sagte sie, »du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst gerächt werden. Sein Schwert kommt meinem Feuer nicht gleich.«
Mrs Noyes schaute ratlos zu Ham hinüber, der mit den Lippen das Wort: »Japeth« formte.
Mrs Noyes nickte.
»Wenn ich dich nur mit nach Hause nehmen könnte«, sagte Luci, »dann würdest du leben. Dort wäre es so leicht – dich nur auf den Boden zu setzen und dir zu sagen: ›Stehe auf und geh!‹ Und ich würde deine Stirn mit meinen Fingern berühren (das tat sie auch)… und dir sagen: ›Sei unversehrt.‹ Zu Hause. Aber hier kann ich nicht zu dir sagen: Stehe auf und geh – denn der Boden hier ist nicht heilig. Und ich kann auch
Weitere Kostenlose Bücher