Die letzte Flut
nicht sagen: Sei unversehrt – denn meine Finger haben ihre Macht verloren.«
Mrs Noyes und Ham lehnten sich nach vorne.
Was meinte Luci mit »zu Hause«?
Nur Mottyl lehnte sich nicht nach vorne. Nicht dass Lucis Worte ihr gleichgültig waren – nur: sie wusste schon, hatte von Anfang an gewusst, woher Luci gekommen war – auch wenn sie nicht unbedingt wusste, wer genau sie war. Bip hatte wissen wollen, ob Mottyl je einen bösen Engel gekannt hatte, und Mottyl hatte »nein« gesagt. Sie hätte auch jetzt wieder nein sagen können. Nichts, was sie über Luci wusste, hatte mit Gewalt oder Streitsucht zu tun. Und Luci hatte allein nur Angst vor Wölfen und Hunden und Füchsen – und die hatten ebenso viel Angst vor ihr – ein Unentschieden also. Gewiss war es vor allem wunderbar, dass Luci eine von ihnen war, bei ihnen war im Innern der Arche – dass sie gegen Doktor Noyes war – gegen seine Experimente – gegen sein Edikt – gegen seine Methoden und seine Taktiken und seine…
Mottyl hätte fast gedacht: bösen Eigenschaften.
Warum hatte sie den Gedanken nicht zu Ende denken wollen, wenn sie so offensichtlich Recht hatte?
Es waren böse Eigenschaften.
Hatte Doktor Noyes sich nicht über alle Leute gestellt? Hatte er sie nicht blind gemacht? Hatte er nicht ihre Kinder getötet? Hatte er sie nicht zum großen Feuer verdammt? Hatte er seine Frau nicht zum Leben einer Gefangenen verurteilt? Hatte er nicht die Feen und all jene zahllosen Tiere abgewiesen?
Ja.
Was konnte jemand wirklich wissen, wenn die ganze Welt nur auf dies reduziert worden war: auf vier Stockwerke Erde und Himmel, die von den stinkenden gelben Wänden und dem klebrigen Pech einer undichten Tannenholzarche umschlossen waren?
Luci sagte: »Glaubt mir: wir könnten hier ewig sitzen – und das Einzige, das sterben würde, wäre unsere Erinnerung an diesen Augenblick. Aber nicht dieser Augenblick selbst. Das weiß ich von dort, wo ich gewesen bin, und von dem, was ich gesehen habe. Glaubt mir! Alle Augenblicke des Lebens, die dieses Geschöpf gelebt hat, können wir uns im Nu vergegenwärtigen. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie es war, als es noch lebte. Wenn wir seinen Tod vergessen können – wird es leben. Nicht für immer: nicht über den Augenblick seines Todes hinaus – aber vor seinem Tod, wo sein Leben konstant bleibt. Schaut…«
Langsam zog Luci eine Hand aus ihrem Handschuh und dann die andere.
Beim Anblick der Schwimmhäute zwischen den Fingern wich Mrs Noyes zurück, sagte aber kein Wort, um Luci nicht abzulenken. Nur Engel hatten Schwimmhäute… das wusste jeder. Mrs Noyes hatte sie gesehen, die Engel im Dienste Jahwes: Michael Archangelis – den Engel im Obstgarten – die großen blonden Engel, die Jahwe gestützt hatten, als er zum Pavillon hinaufging.
Es schien, als ziehe Luci ihr eigenes Selbst aus ihrer eigenen Person und aus ihren Fingern heraus, die schwebend über dem Einhorn verharrten. Sie brach in Schweiß aus - und ihre Schminke zerfloss – die fein gezeichneten Augen brauen, die tief geschwärzten Augen verloren allmählich ihre Form und die Schweißtropfen strömten wie der schwarze Regen Jahwes und die Tränen von Clowns ihr weiß bemaltes Gesicht herab.
Aber aus dem Innern des Einhorns – das noch immer auf ihrem Schoß lag – fing ein Licht an zu leuchten und sein Körper regte sich. Seine Beine zuckten und sein Hals streckte sich, bis es endlich den Kopf hob und Luci anblickte, sie intensiv musterte – und sich fragte, wo es war.
Luci berührte mit den Fingern die Stirn des Einhorns und bewegte ihre Lippen – Worte waren jedoch nicht zu hören.
Das Einhorn erhob sich, stellte sich auf die Füße und taumelte – von Luci gestützt – von ihrem Schoß, bis es stand –unsicher zwar, aber eindeutig stand – vor ihr im Stroh – den anderen zugewandt, und es schlug mit dem Schwanz und versuchte zu gehen. Und während der ganzen Zeit wurde das Licht von innen immer stärker – bis es alle Gesichter erleuchtete. Und alle lächelten.
Und alle sahen, wie aus der Stirn des Einhorns ein Horn aus Bernstein wuchs. Mrs Noyes konnte nur eines denken: Nach all diesen Jahren des Zusammenlebens mit Noah Noyes habe ich endlich ein Wunder gesehen.
Doch nur allzu bald war das Wunder wieder vorbei.
Das Einhorn wurde immer unsicherer auf den Füßen und wandte sich wie Hilfe suchend an Luci.
Luci streckte ihm ihre Hand entgegen und sagte: »Hoda’ah tarn.« Und dann sagte sie:
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