Die letzte Flut
hinteren Teil der Kutsche auf die Straße hinunterglitten. Ihre Gesichter waren weiß bemalte Clownsfratzen, die Augen wie Daumenabdrücke, die Lippen wie ein Bleistiftstrich. Hinter ihnen konnte sie die langsam sichtbar werdenden Formen der Käfige erkennen, die Krähe Mottyl beschrieben hatte; jeder Käfig wurde von vier Maultieren gezogen – oder von sechs, je nach Größe –, und jeder hatte einen Rahmen mit vergoldeten Rokokomotiven aus angeschlagenem weißem Gips. In den Käfigen befanden sich Gestalten – lebendige und riesige Gestalten – mit Zähnen und Schwanz und einige, so hatte es den Anschein, mit mehr als einem Kopf. Es gab auch Spruchbänder, kaum erkennbar, die im Staub nachschleiften, und deren Aufschriften nur teil weise lesbar waren: DIE SIEBEN WUNDER! und GROSSE MYSTERIEN DES LEBENS!
In diesem Augenblick jagte Mottyl über die Straße und setzte sich auf die untere Zaunstange.
Alle Blicke hefteten sich, ob offen oder insgeheim, auf die Stelle, wo Jahwe erscheinen würde. Die Lakaien näherten sich der Tür der Kutsche und einer breitete hastig einen zerrissenen und abgetretenen Teppich auf der Straße aus, damit Gottes Füße die Erde nicht zu berühren brauchten. Emma warf einen verstohlenen Blick auf Doktor Noyes. Er fummelte an seiner Robe herum und schien nur mit erheblicher Mühe das Gleichgewicht halten zu können; dabei kniete und beugte er sich erwartungsvoll nach vorne, der Kutsche zu. Emma hatte entsetzliche Angst vor Doktor Noyes. Trotzdem spürte sie jetzt ihm gegenüber ein Quäntchen freundlicher Nachsicht – ein bisschen Zärtlichkeit angesichts seines hohen Alters und seiner Gebrechlichkeit. Es war auch rührend, dachte sie, dass Doktor Noyes so tief im Staub kniete, wie sie es selber jeden Tag zur Gebetsstunde vor Doktor Noyes tat. Jahwe macht uns alle gleich, dachte sie, einfach nur dadurch, dass er persönlich in Erscheinung tritt…
Endlich öffnete sich die Tür und enthüllte im dunklen Inneren zunächst eine seltsame glühende Blume aus Licht – fast eine Art Phosphoreszenz. Dazu gesellte sich der säuerliche, modrige Geruch von alten gelöschten Feuern – ein Geruch, wie man ihn in verlassenen Häusern vorfindet. Es dauerte volle dreißig Sekunden, bis Jahwe selbst zum Vorschein kam, und weitere dreißig Sekunden, bis Er sich an Seine Umgebung gewöhnt hatte. Die Kutsche war offensichtlich seit vielen Stunden verschlossen gewesen und Jahwe hatte vielleicht geschlafen – vielleicht sogar geträumt. Auf jeden Fall wirkte Er verwirrt.
Geduldig warteten die Lakaien, bis sie Ihm herunterhelfen konnten.
Jahwe holte eine kleine Blechdose aus einem Versteck in Seiner Robe und machte sie auf. Seine Finger waren nicht so lang, wie Emma es erwartet hätte, was zum Teil eindeutig an der Arthritis lag. Die Gelenke waren angeschwollen, und die Finger krümmten sich zu unnatürlichen Formen. Etwas wurde aus der Dose herausgeholt – an Seine Lippen gesetzt und in Seinen Mund gesogen. Gott lutscht Pastillen!, dachte Emma erstaunt. Genau wie Doktor Noyes!
Die Dose wurde wieder in die Tasche gesteckt und Jahwe streckte den Lakaien zuerst die eine und dann die andere lädierte, knorrige Hand entgegen. Jetzt konnte man Seine Robe bei Tageslicht sehen; sie war schwarz mit einem dunkelblauen Besatz und tief im Innern, wo man das Futter der Ärmel erkennen konnte, war sie rot. Sein Bart wallte bis zur Taille, und obwohl er weiß war, waren da auch Spuren von Gelb und Speisereste und verfilzte Knoten. Seine Augen waren wegen des Lichts zusammengekniffen und ihre Ränder waren rot und wässerig – sie sahen entzündet und empfindlich aus. Seine Lippen waren nicht zu sehen, obwohl die Stelle, an der sie sich befinden mussten, durch einen geschwungenen Schnurrbart an der Oberlippe angedeutet wurde. Jahwes ausgeprägte Hakennase war wie ein einziger Knochen und hielt Seine Augen sehr weit auseinander unter einer breiten, hohen Stirn, die Ihn zusammen mit Seiner Nase und der allgemeinen Form Seines Kopfes trotz Seines Alters fast unerträglich schön machte.
Jahwe, der gerade dabei war, ins Freie zu treten, war über siebenhundert Jahre älter als Sein Freund Doktor Noyes, der jetzt auf der Straße vor Ihm kniete. Wie alt das eigentlich war, konnte Emma sich kaum vorstellen. Für Mottyl war es bedeutungslos. Ihr Schöpfer war ein wandelnder Sack Knochen und Haare. Nach seinem Geruch zu urteilen, vermutete sie ferner, dass Er ein Mensch war.
Als Jahwe ausstieg, wobei die
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