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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Lakaien Ihn herunterhoben, und Er in der Luft hing, bis Seine Zehen den Teppich berührten, hoben die Mutterschafe und Widder wieder zu singen an.
     
    Domine Deus, Rex coelestis, Deus Pater,
    Pater omnipotens, Gloria!
     
    Herr und Gott, König des Himmels, Gott, Vater,
    Allmächtiger Vater, Ehre sei Dir!
     
    Und bei der letzten Silbe, als habe Er genau auf dieses Stichwort gewartet, fiel Jahwe hin.
    Jedenfalls sah es so aus, da Sein Kinn den Boden berührte.
    Alle standen auf, um Ihm ihre Hilfe anzubieten, doch plötzlich knieten alle doch wieder nieder, denn Jahwe war nicht gefallen, sondern hatte sich von Seinen Engeln hinlegen lassen, damit Er die Erde küssen konnte.
    Noah dachte, es Ihm nachmachen zu müssen, beugte sich ganz nach unten und küsste nun auch den Boden. Er schmeckte nach sauren Steinen.
    Jahwe erhob sich – oder vielmehr wurde erhoben; die Erde hatte Ihn gezeichnet – auf Seinem Kinn und Schnurrbart. Mrs Noyes ließ ihre Schafe im Stich und eilte hin, den Zipfel ihrer Schürze in der Hand – spuckte darauf und war drauf und dran, Gottes Gesicht damit zu reinigen, wie sie das Gesicht eines Kindes säubern würde.
    Jahwe trat erschrocken einen Schritt zurück und die Lakaien eilten hin und verhinderten, dass Mrs Noyes Ihn berührte. In der Zwischenzeit hatte sich der Kutscher genau in den Weg zwischen Jahwe und alle anderen gestellt. »Dass keiner Ihm ein einziges Haar krümme!«, schrie er.
    Noah zog Mrs Noyes auf ihren rechtmäßigen Platz, ein wenig links hinter sich.
    »Ich bitte meinen Herrn um Verzeihung«, sagte er. »Diese Schwachsinnige – meine Frau – ist in Umgangsformen so unerfahren, dass sie gar nicht wusste, was sie tat. Welche Strafe mein Herr auch immer verordnet, ich werde nur allzu froh sein sie zweimal zu vollstrecken. Wenn Ihr möchtet, dass ihr die Hand entfernt wird, weil sie es wagte, sie dem Herrn entgegenzustrecken, werde ich ihr nicht nur eine, sondern beide eigenhändig entfernen. Wenn Ihr möchtet, dass sie geblendet werde, mein Herr, weil sie es wagte, Euer Angesicht zu schauen…«
    Aber Jahwe winkte ab. »Sie wurde beschämt«, sagte er. »Das genügt.«
    Mrs Noyes machte bedächtig einen Knicks und biss sich in die Wange, um ein Lächeln zu unterdrücken. Sie wusste ganz genau, dass Doktor Noyes ihr niemals die Hände abhacken würde – ohne ihre Hände wäre sie völlig nutzlos für ihn. Dennoch taten ihr die Handgelenke einen Augenblick weh. Verstohlen rieb sie sie unter ihren Ärmeln.
    Noah trat beiseite und zeigte auf seine Söhne und deren Frauen. (Ham war – unerklärlicherweise und zu Noahs Verdruss – nicht anwesend.) Die Vorstellung seiner Familie war förmlich und geschah fast wortlos. Sem war schon immer ein Mann weniger Worte gewesen und jetzt nickte er nur mit dem Kopf und murmelte: »Herr…« Im Versuch, seine Hände und sein Gesicht zu verbergen, beugte sich Japeth sehr tief herunter – und die arme erregbare Emma setzte sich fast auf den Boden, als sie sich an einem Hofknicks versuchte.
    Das waren die üblichen Begrüßungen, wie sie Jahwe überall, wo Er hinkam, geboten wurden. Er schien daran gewöhnt zu sein – vielleicht war Er sogar auf viel Schlimmeres gefasst. Auf Babys, die Ihm ins Gesicht gestreckt wurden, auf Frauen, die vor Seinen Füßen in Ohnmacht fielen, auf erwachsene Männer, die in Tränen ausbrachen. Auf das, was nun folgte, war Er allerdings nicht gefasst.
    Als Hannah hervortrat, machte sie nicht gerade einen Knicks – sondern nickte nur. Was Jahwe jedoch weniger ärgerte als neugierig machte. Was Hannah getan hatte, geschah so offensichtlich bewusst, nicht aus mangelnder Aufmerksamkeit oder aus Dummheit, dass Er sich fragte, was als Nächstes kommen würde. Sekunden später holte Hannah hinter ihrem Rücken einen schön geflochtenen breitkrempigen Hut mit purpurnen Kordeln und dunkelblauen Bändern hervor und bot ihn Jahwe an.
    »Herr, ich war so frei und habe diesen Hut geflochten, den Ihr als Schutz gegen die Unbill dieser Welt, während Ihr unter uns weilt, annehmen möget…«
    Hannah sprach so klar und ohne Angst, dass Jahwe wirklich beeindruckt war. Er nahm den Hut an und setzte ihn sogar Selber auf. Er ließ allerdings zu, dass einer der Lakaien die Kordeln unter Seinem Kinn zuband, was einige Augenblicke in Anspruch nahm, da Jahwes Kinn unter dem jahrhundertealten Bart nicht so leicht zu finden war. Erst als der Hut fest und ordentlich saß, versank Hannah in einem Knicks, der so schön und anmutig war,

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