Die letzte Flut
Forst. Aus den Randbezirken des Forstes – einer Gegend, in der fast ausschließlich blonde Riesen und zwergwüchsige Ausländer mit einer unverständlichen Sprache lebten – wurden ganze Mannschaften von großen blonden Männern angeheuert, die kaum jemals den Mund auftaten. Die Riesen und die Zwerge hatten nicht immer dort gewohnt – aber niemand hätte sagen können, wann das nicht der Fall gewesen war. Einst war der Forst den Drachen vorbehalten gewesen – doch kein Lebender konnte sich an eine solche Zeit erinnern.
Einige der großen blonden Männer waren Emmas Brüder, allerdings hatte ihr Doktor Noyes verboten, mit ihnen zu sprechen. Die Verbindung von der natürlichen Wortkargheit der Waldbewohner mit Doktor Noyes führte dazu, dass die Menschen bei ihrer Arbeit seltsam schweigsam waren. Sem gab zwar die Befehle – aber da er einem Ochsen ähnlich war, war er fast so wortkarg wie die Arbeiter. Das Ganze ähnelte einem Treffen von Stummen.
Was Noah gefiel. Denn so wurden keine Fragen gestellt – Fragen über die Arche, die er unmöglich hätte beantworten können. Gewiss wurde spekuliert: Warum machen wir das? Aber die Frage wurde nie offen artikuliert. Gelegentlich bemerkte Noah, dass man ihn anstarrte – einige kratzten sich am Kopf, die Miene anderer wiederum spiegelte die allgemeine Verwunderung über das Unternehmen wider. Ganz offensichtlich dachten sie: »Der Alte spinnt«, aber dieser Meinung waren sie schon immer gewesen. Die Arche war also nur ein weiterer Hinweis für seine Spinnerei. Und wenn schon. Noah kümmerte es nicht. Nach einiger Zeit würden diese Männer alle nach Hause gehen – und er würde sie nie wiedersehen. Sie würden ertrinken – und ihre Meinungen mit ihnen.
Für Emma, die ihre Brüder liebte und sie schrecklich vermisste, war das alles viel schwerer. Sie und Mrs Noyes – die Emmas Familie auch sehr gern mochte – stiegen frühmorgens auf den Berg hinauf und schauten im Verborgenen zu, wie die Männer ankamen. Sobald sie sich ans Werk machten, gab es zu viel Staub und Durcheinander, um die einzelnen Gesichter zu erkennen, die sie suchten. Zumal jeder von ihnen groß und blond war – und ihre Gesichter sehr bald zu Masken aus Schweiß und Schmutz wurden, welche die letzten Spuren von Eigenart und Persönlichkeit verbargen.
Eines Tages war sich Mrs Noyes sicher, Emmas Vater gesehen zu haben, der ihr vor Jahren Brennholz geliefert hatte. Als sie ihn sah, lenkte er eine der Holzfuhren – ein gut aussehender Mann mit einem gütigen Gesicht, das man nicht vergessen konnte. Er war so bestürzt gewesen, als man seine Tochter an das andere Ufer des Flusses geholt hatte, um Japeth Noyes zu heiraten – und Mrs Noyes hatte seinetwegen ein schlechtes Gewissen. Er hatte nur die zwei Mädchen – Emma und ihre Schwester Lotte; all seine anderen Kinder – hunderte, so schien es! – waren Jungs.
Als sie ihn entdeckte, gab sie Emma Bescheid und zusammen warteten sie am Weg oberhalb des Obstgartens, wo Bäume standen, die sie vor Noahs Blicken schützten. Zwei ganze Stunden harrten sie dort aus und riskierten dabei den Zorn des Doktors – und endlich, als es schon fast dämmerte, kam der letzte Wagen den Weg heruntergefahren; eine ganze Horde junger Männer hockte auf der hinteren Ladefläche; ihre Beine baumelten seitlich herunter. Der Fahrer konnte nur Emmas Vater sein – ihr »Pa«, so nannte sie ihn.
Mrs Noyes trat vor die Ochsen, die sich langsam vorwärts bewegten, und schwenkte ihre Schürze, um sie zum Stehen zu bringen.
Als der Wagen anhielt und die große Staubwolke sich legte, kam Mrs Noyes mit Emma im Schlepptau hervor; sie ging direkt auf den Fuhrmann zu und sagte: »Lass uns mit euch den Berg hinunterfahren! Wir laufen danach gerne wieder hoch.«
Zur Begrüßung von Mrs Noyes zog Emmas Vater an seiner Stirnlocke und grinste – sagte aber kein Wort. Er reichte ihr die Hand und zog sie – als wäre sie eine Stoffpuppe – neben sich auf den Bock, während Emma von ihren Brüdern auf die Ladefläche gehoben wurde, wo auch sie die Beine über die Kante hängen ließ; die ganze Strecke den Berg hinunter kam ihr himmlisch vor.
Mrs Noyes erkundigte sich nach Emmas Mutter und Lotte und den Zuständen auf der anderen Seite des Flusses.
Emmas Mutter gehe es gut; sie sei ganz damit beschäftigt, die Horde Jungs, die hinten auf dem Wagen saß, satt zu kriegen. Die Worte von Emmas Vater klangen amüsiert und liebevoll. Er war seiner Frau sehr zugetan und schätzte sie.
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