Die letzte Flut
Das Leben jenseits des Flusses war »furchtbar hart«, wie er sich ausdrückte, »furchtbar hart und wunderbar, wenn man sich dahinter klemmt. Sie würde nirgendwo sonst leben wollen und ich auch nicht…«
Lotte, das sei etwas anderes. Sie vermisse ihre Schwester Emma »ganz schrecklich«, aber gesundheitlich gehe es ihr gut. »Ansonsten das Übliche…«, sagte er, etwas rätselhaft. Lotte würde niemals heiraten. Sie würde immer zu Hause bleiben. Der Grund dafür wurde nie erwähnt, doch Mrs Noyes kannte ihn.
»Ach, ich wünschte so sehr«, sagte Mrs Noyes, »dass Emma euch besuchen dürfte. Es ist verrückt, dass ich sie euch so herbringen muss – so verstohlen, so kurz. Aber er lässt es einfach nicht zu, und wir müssen ihm gehorchen…«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Emmas Vater; er schaute Mrs Noyes an, und wie er sie anlächelte, war wunderbar.
Mrs Noyes errötete. Was sie da gerade tat – wie sie so neben einem anderen Mann auf einem Holzwagen mitfuhr –, war ungehorsam, wie könnte eine Frau weniger gehorsam sein? Trotzdem platzte das Lachen aus ihr heraus – sie bedauerte keine Minute. Allein nur zu hören, dass Lotte und Emmas Mutter noch lebten und dass es ihnen gut ging – allein nur Emmas so seltenes Lachen hinten auf dem Wagen zu vernehmen –, nur diese wenigen kurzen Augenblicke neben diesem großen, vernünftigen, liebenden Mann zu sitzen – ja, das war jede Minute des Risikos und der Gefahr wert.
Sie waren unten angekommen.
Mrs Noyes stieg ab und ging diskret nach hinten zur Ladefläche, um Emmas Brüder zu begrüßen, während Emma und ihr Vater einander begrüßten und gleich wieder Abschied voneinander nahmen.
Sie warf nur einen kurzen Blick auf sie – und was sie sah, brach ihr fast das Herz. Der staubbedeckte blonde Riese hielt seine Tochter – die klein und dunkel war wie ihre Mutter –, so wie er sie wohl auch als Kind gehalten hatte, er drückte sie an seine Schulter, während sie sich an ihn klammerte und weinte.
Endlich war Emmas Vater so vernünftig einzusehen, dass sie unmöglich noch länger zusammen sein konnten – und er bat Mrs Noyes, Emma nach Hause zu bringen.
Plötzlich war »nach Hause« nicht mehr oben auf dem Berg, sondern jenseits des Flusses – und das machte ihren Abschied so traurig.
Mrs Noyes stand da und hielt Emmas Hand und gemeinsam schauten sie zu, wie das große Holzfuhrwerk in der zunehmenden Dämmerung und im Staub verschwand, und beide riefen: »Auf Wiedersehen!« Emma sagte: »Liebe Grüße an Ma und Lotte!« All die blassen Hände hinten auf dem Wagen gingen in die Höhe, dann machte der Weg eine Biegung und weg waren sie.
Das Einzige, was Emma auf dem Rückweg den Berg hinauf von sich gab, war »danke«.
Mrs Noyes drückte dem Kind die Hand und meinte: »Gern geschehen, Liebes. Aber lass uns beide dankbar sein!«
Emma wusste nicht, dass ihr Vater und ihre Mutter, ihre Brüder und Lotte ertrinken sollten. Mrs Noyes wusste es, hielt aber den Gedanken nicht aus, dass es wahr sei, und sah mit Schrecken dem Tag entgegen – sie wusste, dass er kommen würde –, an dem Doktor Noyes die Worte aussprechen würde.
Es gab danach keine Begegnung mehr mit Emmas Vater und ihren Brüdern. Japeth hatte Verdacht geschöpft, als er eines Abends seine Frau mit einem Korb voller Obst am Wegrand sitzen sah. Da er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder am Bau der Arche beteiligt waren, verbot er ihr, sich jemals wieder in die Nähe des Weges zu begeben. Diesmal hatte das Verbot Wirkung. Emma wurde unter Hannahs strenge Aufsicht gestellt, und bei Anbruch der Dunkelheit sperrte man sie in ihr Zimmer.
Der Bau der Arche war ein monströses Unternehmen, und als der Rahmen für den Kiel einmal gelegt und die Rippen der eigentlichen Arche montiert waren, wurde ersichtlich, wie riesig sie sein würde: das größte Bauwerk, das jemals in der Region errichtet worden war. Die Arbeiter hatten jetzt so viel Ehrfurcht davor, als ob sie an einem Tempel bauten, und diese Einstellung hatte eine durchweg befriedigende Atmosphäre zur Folge: »Es werden keine Fragen mehr gestellt – keine Fragen mehr gebraucht.« Noah war jetzt in der Lage, jedem Arbeiter direkt in die Augen zu sehen und ihn mit seinem Blick aufzufordern, die Größe des Projekts anzuerkennen. Als ob die Größe der Arche sie allein schon rechtfertigen würde.
In der Zwischenzeit, während dieser ganzen Hektik und rasanten Betriebsamkeit, heirateten Ham und Luci. Doktor Noyes sträubte
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