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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Mrs Noyes ging auf die andere Seite des Daches, wo sie sich in den Schatten des Kamins setzte und weinte.
    In der Küche hielt sich Mottyl während der ganzen Geschehnisse hinter dem Ofen versteckt. Selbst ihr blindes Auge blieb die ganze Zeit offen.
     
     
    Mrs Noyes stürzte durch die jetzt schon finsteren Gänge – ihre Röcke und Schürzen um die Oberschenkel hochgezerrt; sie rannte in der blinden Panik einer Mutter, die ihre Kinder nicht finden kann, obwohl sie ihre Hilfeschreie hört. Rauch waberte durch das Haus, von einer Haustür zur andern. Zuerst war Mrs Noyes überzeugt, dass das Feuer drinnen sein musste, aber als sie die offene Tür erreichte und den lodernden Scheiterhaufen erblickte, wusste sie, dass nicht das Haus, sondern etwas anderes – etwas Lebendiges – in Flammen stand.
    Sie zögerte nur eine Sekunde – gerade so lange, um die Arme als Schutz gegen die Hitze hochzureißen und sich eine Schürze um den Kopf zu binden, denn die Luft war voller Funken, groß wie Vögel, und ihre Haare waren zundertrocken – dann rannte sie erneut los – raste durch den dichter werdenden Rauch und versuchte verzweifelt herauszufinden, welches Geschöpf dieses hohe Wehklagen hervorbrachte; sie kannte diesen Schrei – und kannte ihn auch wieder nicht. Sie versuchte auch die Gestalten zu zählen, die mit ihr durch den Ofen (so kam es ihr jetzt vor) drängten – um festzustellen, ob es menschliche Gestalten – ihre Söhne – ihr Mann – ihre Schwiegertöchter waren…
    Nichts von dem, was sie sich bewegen sah, hatte Füße oder Beine – nur Arme und Hals und Kopf –, und alles trieb dahin – stemmte sich durch die Rauchschwaden hoch wie Tiere, die beim Ertrinken an die Oberfläche schnellten, dann versanken und wieder hochkamen. Und wieder versanken und nochmals hochkamen – und endgültig verschwanden.
    Es war zwecklos, Namen zu rufen. Ihre Stimme war zu schwach, und jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, füllte er sich sogleich mit Asche. Und der Wind – gleichviel, ob er die Flammen anfachte oder durch die Flammen überhaupt ausgelöst worden war – machte ein ganz eigenes Geräusch, das aus dem Feuer entstand und fast greifbar schien.
    Mrs Noyes fiel hin – ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Auf einmal lag sie unter dem Rauch auf dem Boden und ihre Handflächen wurden versengt – und was sie versengte, das war ein brennendes Stück Fleisch, und als sie aufblickte, erkannte sie endlich die Gestalten, die sich um sie her bewegten. Es waren Schafe und Rinder und Ziegen und Hunde…
    Mrs Noyes zwang sich auf die Knie, dann auf die Füße, dann stand sie da – wie angewurzelt, starrte von einer Seite zur anderen, die Hand gegen den Mund gedrückt. Und während sie schaute und lauschte, wurde sie allmählich von einer furchtbaren Gewissheit überwältigt. Sie kapierte, was hier vor sich ging – und die Panik, die sie jetzt fühlte, verwandelte ihre Beine in Stein und ihren Verstand in Brei und sie erstarrte vor der einen Erkenntnis: Alles, was hier passiert, geschieht mit Absicht und dieses Feuer bedeutet, dass hunderte geopfert werden.
    Noah…
    Wenn nur ihre Stimme zurückkäme! Wenn sie nur ein Restchen davon aufbringen könnte…
    Noah…!
    Hör auf!
    Aber es kam nichts. Die Worte kamen nicht zustande – und das Einzige, was zu hören war, war, wie um sie herum all ihre Rinder – all ihre Schafe – all ihre Pferde – all die Hunde und all ihre Schreie im Namen Gottes in den Tod durch Verbrennung getrieben wurden.
    Endlich war Mrs Noyes fähig sich zu bewegen; sie streckte die Hände dem nächsten Tier entgegen, ohne überhaupt zu wissen, was es war, und eine Stimme sagte: »Mutter, deine Röcke brennen« , mit einer Seelenruhe, so als würde sie sagen: »Deine Bänder sind aufgegangen…«
    Das Gesicht vor ihr war ein Gesicht, das sie erkannte, obwohl die Züge mit Ruß verschmiert und mit Blasen bedeckt waren. Es war Ham und er hatte gesagt, dass ihre Kleider brannten, und fiel auf die Knie, um die Flammen mit seinen Händen zu ersticken – aber bevor er sich hinkniete, drückte er etwas Lebendiges in ihre Arme und sie presste es ganz automatisch an ihre Brust, ohne zu wissen, was es war, und dort hielt sie es fest, während Ham die Flammen um ihre Füße ausdrückte.
    Als er wieder aufstand, legte er ihr den Arm um die Schultern, zog ihre Schürze weiter über ihre Haare und führte sie weg von der Mitte zum Rand des Hofes auf der Windseite des Rauches, und erst jetzt hörte sie das

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