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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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haben in der Zukunft einen weiteren Auftrag auszuführen und wir werden froh sein, dass wir unsere Pflicht hier erfüllt haben. Ja?«
    Nein.
    Sie würde nicht froh sein.
    Und sie würde ihm nicht verzeihen.
    Nie.
    Ganz langsam fing es zu regnen an.
     
     
    Da seit so vielen Wochen Dürre herrschte, brachte der erste Regen eine Welle der Erleichterung. Ham und Luci und Emma stiegen auf das Deck der Arche und Emma tanzte und sang alle Regenlieder, die sie kannte: »Es regnet, es regnet, es regnet seinen Lauf« und »Regen, Regentröpfchen, fall mir auf mein Köpfchen!« In der Tat wurde so viel gesungen und gelacht und in Pfützen geplanscht, dass offensichtlich keiner merkte, was das für ein seltsamer Regen war. Bis Emma mit dem Finger auf Luci zeigte, die ein langes weißes Gewand trug, und sagte: »Schau! Der Regen ist farbig!« Und das stimmte. Er war lila.
     
     
    Am dritten Tag des Regens senkten sich die Regenwolken, bis sie die oberen Äste der Pinie und das Dach der Arche fast berührten. In den tiefen Furchen aus lila verfärbtem Ton, durch die der Regen jetzt Bäche und Wasserfälle bahnte, fing es – zuerst nur sehr langsam – mit weniger Farbe und mehr Gewalt zu fließen an. Donner war überall, aber noch weit weg, sein Echo umgab die Berge. Jetzt begann der Regen, der seine Durchsichtigkeit und die lila Farbe verloren hatte, trüb und milchig auszusehen. Noah sagte, der Regen, der vorher »böse« gewesen sei, werde jetzt als »leidenschaftlicher« Regen aus dem Himmel geschüttet – er werde auf der sterbenden Erde verschwendet und vergeudet, und er nannte ihn »den Regen des Onan«.
     
     
    Mrs Noyes war verschwunden. Keiner konnte sie finden. Doktor Noyes war außer sich.
    Zugegeben, nicht weil er den Verlust einer Person befürchtete, die er liebte – sondern weil er den Verlust einer Person befürchtete, die er brauchte. Ohne Mrs Noyes konnte die Arche nicht losfahren, ihre Reise wäre zum Scheitern verurteilt. Jahwes Edikt lautete: »Du und deine Söhne und deine Frau und die Frauen deiner Söhne…« Diese acht – sonst würde keiner gerettet werden.
    Hannah kam und stellte sich neben Doktor Noyes unter seinen Regenschirm; vom Deck über dem Landungssteg aus stierten beide durch den Regen.
    »Sie wird uns alle umbringen«, sagte Doktor Noyes.
    Hannah zog ihr Tuch über ihren Bauch.
    »Sie wird uns alle umbringen!«, schrie Doktor Noyes dem Himmel zu. »SIE WIRD UNS ALLE UMBRINGEN! VERHINDERE ES!«
     
     
    Zuerst streifte Mrs Noyes am Fuß des Berges herum, während der Regen weiter fiel und der Wald sich allmählich mit abtrünnigen Hunden und Truthähnen füllte, die von verlassenen Heimstätten weit unten an der Straße vertrieben worden waren. Auch andere Tiere erschienen allmählich am Ufer des angeschwollenen Flusses und im Wald – bald waren es so viele, dass die ortsansässigen Lemuren anfingen in die Baumwipfel zu klettern und von dort zu schreien: »Kein Platz mehr! Kein Platz mehr!«
    Irgendwo in Mrs Noyes’ Kopf hatte sich die vage, jetzt allerdings nur mehr verzweifelte Hoffnung gehalten, Mottyl könnte irgendwie mitten aus diesem Ansturm herren- und obdachloser Tiere auftauchen; vielleicht könnte ein Wunder des Zufalls ihnen helfen, einander wiederzufinden.
    Aber weder das lange Gras – bis in den Boden getreten – noch die Randbezirke des Waldes und die rapide kürzer werdenden Strecken der Straße, die sie bei ihrer zunehmenden Erschöpfung noch schaffte – nichts brachte eine Spur von Mottyl zutage. Mrs Noyes’ Kleidung war jetzt völlig durchnässt, und da sie nach nasser Wolle, verbrannter Schürze und angesengten Haaren roch, fühlte sie sich wie ein gelöschtes Feuer. Ihr hätte kalt sein müssen, doch dem war nicht so. Der Regen war erstaunlich warm und kam ihr – zuweilen – fast heiß vor. Im Tal trieben Nebelschwaden, die in Fetzen hingen wie früher der Dampf, der aus den köchelnden Töpfen auf ihrem Herd hochstieg.
    Jedes Mal, wenn das Gras sich bewegte oder ein Zweig knackte oder ein Ast herunterfiel, blieb Mrs Noyes abrupt stehen und flüsterte: »Mottyl? Mottyl?« Es war zwecklos, lauter zu sprechen, besonders gegen das Schreien der Lemuren anzukämpfen. Die Welt war eine Wildnis geworden – und sollte sie ihre Katze finden, dann hätte sie das allein nur dem Zufall zu verdanken.
     
     
    Im Finstern – und finster war es immer – rannte Mottyl davon; sie rannte weg vom Klang von Doktor Noyes’ Stimme, vom Geruch des Feuers und vom Gestank

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