Die letzte Flut
brennenden Fleisches. Das Feuer war jedermanns Feind – aber Doktor Noyes war schon immer ihr ganz persönlicher Feind gewesen: der Schöpfer ihrer Blindheit und der Mörder ihrer Kinder. Und jetzt hatte er versucht auch sie umzubringen.
Die Finsternis, in der sie sich bewegte, war nicht völlig dunkel. Es gab Übergänge – blasse, wässrige Übergänge, die Formen unbeweglicher, manchmal auch sich bewegender Dinge erkennen ließen: einen Schwarm fliegender Vögel, einen laufenden Hund, die springende ruckartige Bewegung eines Lemuren. Bäume und Felsen und Mauern waren ihre allerschlimmsten Feinde – fast ohne Vorwarnung tauchten sie plötzlich auf – flach und ohne Dimensionen; sie bedeuteten drohende Zusammenstöße und verursachten diese auch allzu oft.
Mottyl machte sich davon, den Berg hinunter – und beschwor all ihre Erinnerungen an Mauern und Bäume und Tore und ihre Standorte – versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wo die Öffnungen waren, die kleinen Lichtflecken, die sie durchließen –, aber sie musste einen großen und nicht vertrauten Umweg um die Stelle im Hof machen, wo ihresgleichen dem Feuertod anheimfiel und verfing sich fast augenblicklich in den Leichen, die da schwelten.
Mottyl schrie sehr selten. Sie war schon immer eine stoische Katze gewesen und meistens schwieg sie, wenn sie Angst hatte – und wenn sie Schmerzen hatte, verkroch sie sich. Doch hier im Hof, wo ihre Nüstern vom gewaltigen Gestank schwelenden Fells überwältigt waren, wo das Geräusch brennender Innereien in ihren Ohren sang und das sickernde, kleisterartige Knochenmark an ihren Pfoten festklebte, in Panik wegen des Rauches und aus Angst vor dem Feuer, das sie nicht ganz sehen konnte, war sie ergriffen und blieb – bewegungsunfähig – stehen, warf den Kopf in den Nacken und heulte.
Keiner hörte sie.
Es war niemand in der Nähe außer den Toten und – in der Luft – das stille Kreisen der Geier, die warteten.
Als Mottyl sich endlich bewegen konnte, hatte es zu regnen begonnen und jeglicher Orientierungssinn war ihr abhanden gekommen.
Mrs Noyes musste nach Essen suchen, denn alles Essbare war aus den Gärten und Speisekammern und Vorratskellern geholt worden. Jedes Ei aus dem Hühnerstall – jeder Sack Mehl aus dem Lagerraum – jedes Stückchen Fleisch aus der Räucherkammer und jedes Bündelchen Kräuter, das von den Balken ihrer Sommerküche gehangen hatte – alles war weg. Und jedes Korn aus dem Getreidespeicher. Nichts war übrig geblieben: Es war entweder verbrannt worden oder lag tief im Laderaum der Arche. Der bloße Gedanke, dass sie an dieser Aktion teilgenommen hatte – sogar bereitwillig teilgenommen hatte…
Nun gut.
Es gab jedoch durchweichtes Gras und bittere Wurzeln in der Erde und saure gelbe Beeren, die an Reben hingen, und es müsste Äpfel geben…
Wie dumm von ihr!
Sicher gab es noch Äpfel im Obstgarten… Schließlich war so vielen verboten, Äpfel zu essen, dass nur sehr wenige überhaupt verzehrt wurden. Frauen war es vollkommen untersagt, Äpfel zu essen, ebenso Kindern und Haustieren.
Nur die Ältesten wie Noah – Männer, die in die Mysterien eingeweiht waren – durften Früchte aus dem Obstgarten verzehren. Nun aber war der Obstgarten voller Apfelbäume. Dutzenden – im Frühling blühten sie so schön und im herbstlichen Regen konnte man den Duft der Apfelschalen riechen. Warum hatte sie daran nicht gedacht?
Sie stürzte los – ohne auf den Schlamm und das rutschige Gras und den Blumenwirrwarr überall auf dem Berghang zu achten. Auf dem Weg bergauf durchquerte sie die Felder Richtung Fuhrweg mit den niedrigen Steinmauern, auf denen Glasscherben lagen und dem Tor, das immer abgeschlossen war, das sie aber im Geiste jetzt schon aufbrach.
Alle Äpfel werden mir gehören, dachte sie.
Als sie den Fuhrweg erreichte, war sie so außer Atem, dass sie anhalten musste; sie fiel auf die Knie, dann auf die Hüfte – nur einen Augenblick… »Nur einen Augenblick Pause«, flüsterte sie. Und dann – mit einem Schlag – riss es sie hoch – stand sie kerzengerade.
Ben Azai war gestorben… Ben Zoma hatte seinen Verstand verloren… Ben Abuya hatte die Pflanzen der Vernunft ausgerissen…
So hatte Jahwe erzählt – weil sie den Obstgarten betreten hatten.
Wieder sackte Mrs Noyes zusammen – ihre Hüfte stieß gegen einen großen runden Stein – und beim Schmerz, ausgelöst durch den Stein, der auf ihre Knochen drückte, fuhr der Gedanke durch sie
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