Die letzte Flut
hindurch: Aber sie haben den Obstgarten doch nicht wegen der Äpfel betreten… sie sind hineingegangen, um zur Erkenntnis zu gelangen, und ich will nur etwas zu essen! (Sie stand auf.) Und – außerdem: Ist nicht einer am Leben geblieben? Ist nicht einer heil aus dem Obstgarten gekommen?
Ja.
Mrs Noyes drehte sich um und schaute den Weg hinauf, zum Tor mit seiner Kette und seinem Schloss.
Rabbi Akiva ging heil in den Obstgarten hinein und kam heil wieder heraus.
Das würde sie auch.
Mrs Noyes riss einen ihrer Unterröcke in lange, breite Streifen und hängte sich vorsorglich ein paar davon um den Hals. Vielleicht würde sie die Streifen einmal brauchen, wer weiß? Sie war lange genug Hausfrau und Mutter gewesen, um zu wissen, dass es überhaupt nichts gab, was nicht irgendwie von Nutzen sein konnte. Den Rest des Unterrocks wickelte sie in mehreren Lagen als Verband um die Hände und ließ dabei nur die Daumen frei. Das Ganze wirkte wie Fäustlinge aus Baumwolle – etwas unförmig zwar, aber sie würden ihren Zweck schon erfüllen.
Ihr kam der Gedanke, dass das Aufbrechen des Tores womöglich die Wirkung eines magischen Fluches auslösen könnte, den Jahwe oder Noah über das Schloss ausgesprochen hatten. Das Elmsfeuer oder die Große Schlange von Eden könnte heraufbeschworen werden – und dieser Gedanke behagte ihr gar nicht. Es war besser, ihr Glück bei der Mauer mit den Glasscherben zu versuchen.
Blinde können durch Willenskraft eine Art Sehen erzwingen. Obwohl sie nichts klar erkennen, kann dann ein Schatten Form annehmen und eine Lichtquelle wahrgenommen werden.
Mottyl hatte den Obstgarten ebenfalls gefunden – aber früher als Mrs Noyes. Früher hatte sie diesen Ort nicht oft aufgesucht – vor allem wegen der Tatsache, dass Doktor Noyes und Hannah auf allen Wegen ihren Geruch zurückgelassen hatten und die Torpfosten nach ihren Handabdrücken rochen. Vor sehr langer Zeit einmal hatte sie die Mauer ausprobiert und sich dabei an den Scherben ihre Fußballen aufgeschnitten – aber damals war sie noch ein Kätzchen, und sie hatte nur noch eine vage Erinnerung daran. Als sie sich der Mauer jetzt früh am Morgen nach der Tierverbrennung näherte, rieten ihr die Flüsterstimmen, sie solle sich vor der Mauer in Acht nehmen – mehr nicht.
Es war noch vor Morgengrauen und am Himmel war nur ein ganz blasser Lichtschimmer erkennbar. Mottyls Gesamteindruck von der Welt war grau – alles verschwamm, doppelt benebelt: Alles dampfte, weil der Regen darauf fiel – alles wurde durch die getrübten Linsen des grauen Stars wahrgenommen. Die Nacht – den finstersten Teil davon – hatte sie an den Ast eines Nadelbaums geklammert verbracht; keine Minute hatte sie richtig geschlafen – die Ohren gespitzt und ihre ausgestreckten Krallen tief in die Rinde geschlagen – so tief, dass das ausströmende Harz ihre Träume färbte. In ihrem Fell mit den roten, schwarzen und weißen Flecken hing noch der Geruch nach Feuer und Rauch, doch je länger sie im Regen auf ihrem Ast kauerte, desto weniger war davon wahrnehmbar. Und jetzt – als sie sich zur Mauer des Obstgartens aufmachte – bemerkte man den Geruch kaum mehr. Wenn die Drachen, vor denen sie so viel Angst hatte, aufgetaucht wären, hätten sie sie gleich wittern können, denn die Nässe ihres Fells und die Wärme ihres Körpers, mit der sie die morgendliche Kühle ausgleichen konnte, verstärkten ihren Eigengeruch. Das könnte problematisch werden und sie überlegte, wo sie etwas Mist finden könnte, um sich darin zu wälzen oder, besser noch, irgendwelche Kräuter, die gleich zwei Vorteile hätten: sie würden ihre Flohbisse lindern und ihre Stimmung heben. Der Duft der Äpfel jenseits der Mauer war geradezu betörend, obwohl er für Mottyl nicht dieselbe Bedeutung hatte wie für Mrs Noyes. Für Mottyl hatte der Duft nichts mit Essen zu tun, sondern diente ausschließlich zur Bestimmung ihres Standorts. Er verlieh ihr einen Punkt, um den herum sie einen Kreis ziehen und dabei Entfernung und Richtung fast genauso wie früher feststellen konnte, als sie sich in Häusern und bei wenigstens einem Teil der Leute, mit denen sie lebte, sicher fühlte – als sie ihren Standort am Geruch von Mrs Noyes abschätzen konnte, an den Gerüchen der Küche und ihrer geliebten Veranda, an deren Rand sie in der Sonne gelegen hatte – am Geruch des Schaukelstuhls mit der gewirkten Sitzfläche und den Armlehnen, die mit dem Schweiß von Jahrhunderten aus Mrs Noyes’
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