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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Handflächen geölt waren. Als sie sich dem Obstgarten näherte, freute sich Mottyl also über den Duft seiner Äpfel. Ebenso erging es – offensichtlich – einer Vogelschar. Die Vögel waren nicht sehr groß – dafür aber umso lauter.
    Wenn sie sich nur hätten entscheiden können, welche Art von Lärm sie machen wollten. Aus den Baumwipfeln ließen sie jeden nur erdenklichen Vogelruf ertönen und sogar ein paar andere Rufe – einen bellenden Hund – den Schrei eines Lemuren – ein Menschenweib. Und das Geräusch surrender Dinge – wie Uhren und Doktor Noyes’ mechanische Geräte…
    Stare.
    Mottyl lief näher, den Hang hinunter auf die Mauer zu. Das Licht war jetzt stärker, obwohl sich die Sonne selber nicht zeigte.
    Wenn nur ihre Flüsterstimmen nicht so laut wären, könnte sie ungestraft ihr Glück bei der Mauer versuchen. Aber sie wollten einfach nicht still sein, wurden sogar so laut, dass es allmählich lästig war.
    Warum sagt ihr mir nicht, was los ist? Warum brummt ihr nur: »Gib Acht! Gib Acht!«? Sagt mir lieber, warum ich Acht geben sollte – wovor ich mich in Acht nehmen sollte. Ist da jemand? Der Engel? Ist der Engel da?
    Nein. Nur Vögel. Nicht gefährlich.
    Was dann?
    Mauer. Mauer.
    Mauer. Das ist mir eine große Hilfe! Sagt mir, warum die Mauer.
    Wir können nicht. Wir können uns nicht mehr erinnern. Nur… die Mauer; die Mauer; gib Acht!
    Mottyl befand sich jetzt am Hang, etwa sechs oder sieben Sprünge oberhalb der Mauer, die sie als eine niedrige, dunkle Form »sehen« konnte, eine Form, die ein Band durch das Grau bildete. Der Apfelduft stieg ihr in die Nase, der Lärm der Stare in die Ohren.
    Stare waren sehnig – drahtige kleine Dinger –, kaum Fleisch, und auch das Bisschen war nicht schmackhaft. Es war bitteres Fleisch, das etwas metallisch schmeckte – ungefähr wie der Rost, den man in bestimmten Quellen und Tümpeln vorfand. Es war sogar ein ganz schwacher Hauch von Aloe dabei – als ob sich Stare von giftigen Beeren und den Blättern der Stechpalme ernähren würden. Trotzdem…
    Mottyl saß kerzengerade da – wie ein Hase –, das Gesicht auf die singenden Bäume gerichtet.
    »Vogel!«, rief sie. »Vogel?«
    Die Stare verfielen – sofort – in Schweigen.
    Mottyl machte sich flach – überquerte im Laufen den Hang – und blieb wieder stehen.
    »Vogel…«, rief sie erneut – diesmal leiser. »Vogel?« – mit entstelltem Tonfall. Es war dieselbe Technik wie beim Mäuseanlocken, obwohl – notgedrungen – etwas schroffer, weil die Stimme nach oben in die Luft statt nach unten auf die Erde und durch das Gras gerichtet war.
    »Vogel!« Sehr barsch dieses Mal. »Vogel!«
    In ihren Bäumen murrten die Stare – verunsichert…
    Jetzt wusste Mottyl, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, und sie fing zu schnattern an.
    Schnattern konnte so herrlich verhängnisvoll sein – wenn man den richtigen Ton traf. Nicht jeder Vogel ließ sich in Versuchung führen. Zum Beispiel fiel eine Wanderdrossel niemals auf dieses Manöver herein – aber Stare, Kuhstärlinge und Finken konnten ihm nicht widerstehen – sie krochen einem fast ins Maul, wenn sie angeschnattert wurden.
    Ein Star erlag der Versuchung.
    Er flog vom Apfelbaum herunter und ließ sich auf der Mauer nieder, schaute auf das Durcheinander von durchweichtem Gras und Gestrüpp und murrte.
    Mottyl verfluchte ihre Blindheit. Sie wusste, der Vogel war da, erkannte es an seiner Stimme – aber seine Form ähnelte zu sehr der Form der hoch ragenden Steine ringsum. Wenn er sich nur bewegen würde! Mottyl verfluchte auch das Gewicht ihrer Kätzchen im Bauch, das jetzt genügte, um sie beim Springen aus dem Gleichgewicht zu bringen – obwohl das alles nicht schlimm wäre, wenn sie noch ihr Augenlicht hätte.
    Sprich noch mal! Sprich, flehte sie den Vogel an. Sprich!
    Als ob der Vogel ihr Flehen gehört hätte, rief er den anderen im Baum etwas zu.
    Mottyl schlich sich an die Stimme heran und nutzte dabei die überhängenden Äste eines Myrtenhains als Deckung – sie ließ die Zweige gegen ihren Rücken drücken, so dass sie merken konnte, wenn das Gewicht der Zweige zu den Spitzen hin abnahm… Red weiter! Sprich noch einmal! Sprich…
    Der Star beugte sich nach vorne – starrte auf die Erde unter der Mauer –, hielt unvorsichtigerweise nach Insekten Ausschau.
    Mottyl war jetzt nur noch einen einzigen Sprung von ihrer Beute entfernt – und war sicher, dass sie deren Form erkannt und von den Formen der

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