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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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Steine unterschieden hatte.
    Plötzlich stieß der Vogel einen Schrei aus.
    Er hatte sie gesehen.
    Mottyl sprang.
    Der Star entflog – und Mottyl, nur wenige Zentimeter von den Steinen entfernt, hörte plötzlich ihre Flüsterstimmen schreien…
    GLAS!
    Alle Stare wirbelten hoch – schrien empört die hochfliegende Gestalt Mottyls an – als sie die eingemörtelten Glasscherben übersprang – und auf der Gartenseite der Mauer zu Boden fiel. Die Vögel flogen weiter, in die Baumreihen hinein, wo sie sich wieder setzten und, zwischen Äpfeln und Blättern verteilt, wie Harpyien kreischten: »Katze! Katze! Katze!«
    Mottyl, die auf den Pfoten gelandet war, war wie durchgerüttelt – neben der Mauer ging sie in Kauerstellung; ihr Herz pochte und ihre Zunge geiferte und ihre Ohren waren angelegt. Sie konnte kaum Luft holen – und der Dunst vor ihr wimmelte von kleinen weißen Pünktchen, die ihr schwindelig machten. Tief in ihrem Bauch spürte sie, wie ihre Kinder – durcheinander gewirbelt und beunruhigt – sich verlagerten, sich gegenseitig verschoben. Schnell legte sie sich auf die Seite und streckte ihre Flanken möglichst weit, um ihre Bauchhöhle zu vergrößern. Sie machte die Augen zu – hatte jetzt keine Lust auf Helligkeit – und versuchte tief und lang zu atmen; sie zog die Luft tiefer und fester in die Lungen ein und krümmte langsam ihre Pfoten – ein – aus – ein – aus, bis alles Zucken und Hüpfen und Zittern sich gelegt hatte und sie auf die Herzschläge horchen konnte, die nicht ihre eigenen waren.
    Eins.
    Zwei. Drei.
    Vier. Fünf…
    Nichts.
    Sechs; es hätten sechs sein sollen.
    Wo bist du, sechs? Wo bist du?
    Nichts.
    Mottyl drehte sich auf die andere Seite.
    Sechs? Sechs?
    Sechs?
    Bedächtig zog sie den Kopf über ihren Bauch; sie lag jetzt auf der Rundung ihres Rückens und zwickte ihre Haut, damit die Kinder sich wieder bewegen mussten. Bewegt euch! Bewegt euch!
    Sie verlagerten sich – diesmal ganz sanft –, trieben durch die Flüssigkeiten, in die sie gebettet waren – eins – zwei – drei…
    Vier.
    Fünf.
    Sechs.
    Mottyl lag gegen die Mauer gelehnt da und schlief volle fünf Minuten. Alle sechs Herzen und ihr eigenes schlugen im Rhythmus des fallenden Regens.
    Mit seinen ordentlichen Baumreihen und den grasbewachsenen Wegen sah der Obstgarten so friedlich aus; es schien äußerst seltsam, dass Mrs Noyes vor einem solchen Ort Angst haben sollte. Aber sie hatte Angst. Ihr ganzes Leben lang hatte man ihrem weiblichen Gewissen eingebläut, dass nur Frauen mit dem Dispens von allerhöchster Seite erlaubt war, unter diesen Bäumen und auf diesem Gras zu wandeln: Frauen wie Hannah – in der Tat war sie das einzige weibliche Wesen, nach Kenntnis von Mrs Noyes, für das die erforderlichen Zugeständnisse gemacht worden waren.
    Sie näherte sich der Mauer.
    Die ganze Zeit über war sie sich im Klaren darüber, dass ihr jemand von der Arche aus möglicherweise nachspionierte, und folglich duckte sie sich bei jeder Bewegung zu Boden. Gebückt und ihre baumwollenen Fäustlinge durch den Dreck schleifend, überwand sie die letzte offene Wegstrecke und warf sich dann gegen die Mauer, wo ein paar Johannisbeersträucher üppig genug wuchsen, um sie zu verbergen.
    Sie wartete.
    Kein Geräusch außer dem Regen – und überhaupt kein Hinweis darauf, dass jemand sie gesehen hatte.
    Die Mauer, die sich jetzt direkt über ihr am Hang befand, war nicht ganz so hoch, wie Mrs Noyes groß war. Die Steine darauf liefen spitz zu – und die Menge der Glasscherben war größer, als sie in Erinnerung hatte.
    Nun gut: je früher begonnen, desto früher vorbei.
    Sie richtete sich auf – bis zu ihrer vollen Größe – und zupfte an den Streifenenden ihrer Fäustlinge; sie band sie eng um die Handgelenke. Dann legte sie ihre Hände, sehr vorsichtig – aber fest – auf eine Stelle, wo ihr die Scherben am wenigsten bedrohlich vorkamen, und hob sich vom Boden ab…
    Ach Gott.
    Sie steckte fest.
    Ihre Hüfte, von den Röcken heruntergezogen, war voll auf der Mauerspitze gelandet und sie fühlte das Glas ganz langsam wie eine Unmenge Drachenzähne in ihr Fleisch eindringen.
    Sie lag ganz ruhig; sie hatte Angst davor, sich bei der geringsten Bewegung die Seite aufzureißen; dann hob Mrs Noyes – so wie man einen einarmigen Liegestütz ausführen würde – ihr Gewicht in die Höhe und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer auf den Boden rollen. Bluten würde sie – aber wenn sie nicht hinschaute, würde

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