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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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sie nicht in Ohnmacht fallen.
     
     
    Nach ihrem Fünf-Minuten-Schlaf wachte Mottyl auf – erleichtert und froh, dass alle sechs Kinder lebten – und immer noch hungrig.
    Sie setzte sich auf, beschnupperte die Luft und merkte sehr schnell, dass sie nicht alleine im Obstgarten war.
    Die Füchsin war auch drin.
    Mottyl stand auf – und nahm eine drohende Haltung an. Das war eine automatische Reaktion. Wenn man die Füchsin witterte, bereitete man sich am besten sofort auf die Verteidigung vor – obwohl die beste Verteidigung darin bestanden hätte, abzuhauen, und zwar so weit wie möglich. Das Problem war – sie wusste nicht genau, wo die Füchsin sich befand. Höchstwahrscheinlich suchte sie – genau wie Mottyl – nach Nahrung. Sie schnüffelte oft im Obstgarten und am Rand der Felder herum, ob es dort nicht junge Hasen gab. Aber die Luft war feucht und es war völlig windstill, was zur Folge hatte, dass der Geruch der Füchsin überall war – durch den Nebel gleichmäßig verteilt.
    Aufgrund ihrer Blindheit war Mottyl mehr oder weniger wehrlos. Auf jeden Fall wäre sie ein allzu leichtes Opfer für jedes Tier, das ihr Blindsein bemerkte – und wenn besagtes Tier groß genug wäre, wären Mottyl und ihre Kinder verloren. Was nicht heißt, dass sie nicht kämpfen würde. Doch es gibt Kämpfe, die man nicht gewinnen kann…
    Mottyl lauschte mit äußerster Konzentration. Aber kein Laut war zu hören. Jedenfalls nichts, was sie mit einem Fuchs in Verbindung bringen würde.
    Mottyl schlich von der Mauer weg; sie vermied die bedrohlich hoch ragenden Konturen der Baumstämme und streifte unter den Ästen vorbei, redete sich ein, dass sie notfalls immer noch auf einen Baum klettern könnte.
    Plötzlich stand die Füchsin vor ihr – sie kam offensichtlich aus dem langen Gras.
    Mottyl sauste den nächsten Baum hoch, so hoch, wie sie es den Ästen überhaupt noch zutraute, ihr Gewicht zu tragen.
    Am Fuß des Baumes drehte die jetzt bellende Füchsin durch. Sie war wütend auf Mottyl, weil sie ihr entkommen war, und warf ihr jeden Schimpfnamen, der ihr einfiel, durch die Blätter entgegen, während Mottyl – erst einmal in Sicherheit – sich auf eine lange Belagerung einstellte. Doch dann passierte etwas sehr Seltsames.
    Obwohl ihre Schimpfkanonade gegen die Katze so heftig und böse war, brach die Füchsin mittendrin ab und sank auf die Seite ins Gras. Mottyl konnte ihr Keuchen hören – und dann, ganz langsam, nahm sie ein anderes Geräusch wahr: Die Füchsin war erschöpft. Sie murrte und klagte. Sie war dem Heulen nah. Weil es nichts zu fressen gab. Es keinen sicheren Ort gab, an dem man sich verstecken konnte. Sie war am Verhungern und ihre Jungen waren schon tot.
    Mottyl hatte ganz zufällig eben ein ganzes Gelege Eier in einem Blauhähernest entdeckt.
    »Füchsin?«
    Die Füchsin blickte zu ihr auf.
    Mottyl stieß zwei Eier aus dem Nest – und ließ drei für sich übrig.
    »Iss!«
     
     
    In all seiner geordneten Herrlichkeit breitete sich der Obstgarten vor Mrs Noyes aus.
    Sie lief – humpelte eher – schnell zum nächsten Baum, wo die Äpfel eine blasse, liebliche gelbe Farbe hatten, nahm einen – zwei – drei in rascher Folge ab und aß sie; sie benutzte beide mit Fäustlingen versehenen Hände, um die Äpfel zum Mund zu führen. Sie aß nicht nur, sie trank auch – die Säfte trieften von den Mundwinkeln über ihr Kinn den Hals hinunter und in die Spalte zwischen ihren Brüsten. Es war fast wie ein Bad in Nektar, sie schwelgte darin – und hätte die Butzen am liebsten über ihren Haaren ausgedrückt. Das Fruchtfleisch der Äpfel war besser als alles, was sie jemals gekostet hatte – obwohl wahrscheinlich fast jedes Nahrungsmittel dieselbe Wirkung gehabt hätte, denn das halbe Vergnügen lag darin, dass sie Durst und Hunger mit etwas anderem als Wasser stillen konnte.
    Sie blickte um sich und sah, wie viele Bäume noch immer Früchte trugen, und sie dachte: Ich muss mir einen Vorrat jenseits der Mauer anlegen – dann muss ich nicht jedes Mal, wenn ich Hunger habe, diese blöden Fäustlinge anlegen und mir die Beine aufschlitzen.
    Rote Äpfel, grüne Äpfel, violette Äpfel, gelbe Äpfel, sogar weiße Äpfel – hingen von den Ästen – und fielen ihr in die Schürze, als sie die Äste schüttelte und sich dann bückte, um die Äpfel aufzulesen, die unter dem Gewicht des Regens schon zu Boden gefallen waren. Und das Gras war süß, wegen der Äpfel und auch wegen seines eigenen nassen Geruchs,

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