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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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und Mrs Noyes dachte, dass es keine bessere Erinnerung an die Erde geben könne als diese: an die Wohlgestalten Äste ihrer Bäume und den Geschmack ihrer Früchte und den Duft ihres Grases und die Wärme ihres Regens.
     
     
    Zwei Schürzen voller Äpfel würden sie einen ganzen Monat lang durchfüttern; allerdings konnte sie nicht glauben, dass sie dann noch am Leben wäre, um sie zu essen. Mrs Noyes setzte sich auf den Boden und aß hintereinander ein Dutzend Äpfel. Die Röcke hochgezogen, saß sie da, der Regen konnte ihre Beine abwaschen, und sobald sie einen Apfel aufgegessen hatte, rieb sie ihre Wunden ganz sanft mit dem Butzen ein. Die Säure brannte, doch sie wusste, dass sie helfen würde, die Schnittwunden zu heilen.
    Es war nicht vorauszusehen, ob der Regen noch an Stärke zunehmen würde – aber Mrs Noyes kannte Noahs Gerissenheit und erinnerte sich, wie wütend Jahwe gewesen war: Das gab ihr wenig Zuversicht, auf Mäßigung hoffen zu können. Es könnte sehr wohl sein, dass es noch tagelang weiterregnete – so weich und warm –, in späteren Zeiten würde man es als »schottischer Nieselregen« bezeichnen. Aber es würde auf Dauer nicht so bleiben. Sicher würde der heilige Donner kommen, auch Jahwes rasende zackige Blitzschläge, mit denen er so oft versuchte, seine Leute in Angst und Schrecken zu versetzen. Und es würde herabstürzende Wasserfälle geben. Und gefrierenden Regen, der in undurchsichtigen Strömen herunterkommen würde. Und heftige Wolkenbrüche, von lärmendem Sturm und peitschendem Wirbelwind begleitet. Und schließlich… was? Die Tümpel würden über ihre Ränder treten – alle Flüsse über die Ufer – alle Teiche würden die Berge hinunterstürzen – und die Wasserfälle würden verstummen, verschluckt von den ansteigenden Seen und den versinkenden Bergen. Und dann…
    Mrs Noyes stand auf.
    Und dann…
    Sie warf das letzte Kerngehäuse weg, wischte den Mund mit dem Handrücken und rülpste. Ich bin wie eine Kuh, dachte sie. Ich stehe im Regen und starre vor mich hin. Gleich fange ich noch an, wiederzukäuen!
    Und dann…
    Mrs Noyes konnte sich nichts mehr vorstellen, obwohl sie ganz genau wusste, dass noch mehr vorstellbar war – und Jahwe und Noah es sich schon vorgestellt hatten. Aber das ging sie nichts an. Ihr würde der Regen, ganz gleich, wie viel fallen sollte, für immer genügen; die Absicht, die dahinter stand, war vom Augenblick des ersten Tropfens an klar gewesen.
    Sie drehte sich kurz um und blickte auf den Obstgarten zurück, sog einen letzten Zug seines süßen Duftes ein. Außer Äpfeln lag noch etwas anderes in der Luft. »Ich rieche ein Tier«, sagte sie. Groß? Klein? Gefährlich? Gutmütig? Wie konnte sie es wissen? Es war einfach – ein Tier.
    »Mottyl?«
    Nein – der Geruch war wilder.
    Mrs Noyes schüttelte ihre Röcke aus, warf die mit Äpfeln gefüllten Schürzen über ihre Schultern und ging den Berg hinunter. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund, fand sie, war – seltsamerweise – etwas Tröstliches in der Mischung aus Apfelduft und dem Geruch eines Tiers. Vielleicht war dies gerade das Zeichen, dass außer ihr noch etwas anderes am Leben war und auf dem Berg herumzog. Wenn es nur ihre Katze gewesen wäre.
     
     
    Mottyl trottete zum Waldrand hinunter. Es wurde jetzt Abend, und die Lemuren schrien nach der Sonne. Mottyl dachte gerade an Bip und Ringer – wünschte, sie wären in Sicherheit an Bord der Arche.
    Der ständige Regen und das durchtränkte Gras hatten sie bis auf die Haut durchnässt; also setzte sich Mottyl, bevor sie den Wald betrat, auf den kaputten Zaun, wo Michael Archangelis den Drachen getötet hatte, und fing an sich zu trocknen; sie benutzte die Pfote, um das Wasser aus ihrem Fell zu drücken.
    Bip und Ringer schauten aus ihrer Pappel auf sie hinunter; sie waren sich nicht ganz sicher, ob es wirklich Mottyl war. Sie sah so lächerlich klein aus.
    »Bist du es, Mottyl?« Bip ließ sich an einem der eher rutenähnlichen Äste hinabgleiten und überschüttete alles darunter mit einem Schauer von nassen Blättern.
    »Bip?«
    »Wieso bist du nicht zu Hause?«
    Mottyl erklärte ihm nicht, dass sie vor Doktor Noyes geflohen war. Im Moment war es wichtiger, ihre Freunde dazu zu bewegen, an Bord der Arche zu gehen.
    Sie berichtete Bip und Ringer, wie die Tiere paarweise an Bord geholt wurden; sie sei sicher, dass Ringelschwanzlemuren noch keine darunter wären; Bip und Ringer müssten sich retten, müssten möglichst schnell

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