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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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verabschieden – nicht um sich wunders was anzuhören.« Er zog seine Roben zurecht, seufzte ganz tief und fuhr fort: »Ich nehme an, du möchtest verhandeln. Also…«
    »Hier wird nicht verhandelt«, sagte Mrs Noyes. »Ich habe vor, an Bord zu kommen – und Lotte kommt mit mir.«
    »Träum nur weiter!«, sagte Doktor Noyes. »Das wird nicht geschehen.«
    »Oh, doch. Wenn nicht, werde ich nämlich Emma sagen, warum sie wirklich als Japeths Frau ausgewählt wurde…«
    »Bitte, dann sag es ihr!«, sagte Noah.
    Mrs Noyes war verblüfft, doch sie versuchte ihre Reaktion nicht zu zeigen. Stattdessen lachte sie kurz auf und wies den Vorschlag zurück. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte sie. »Du kannst unmöglich wollen, dass es bekannt wird.«
    »Ich sagte: ›Bitte, dann sag es ihr!‹, oder?«
    »Ja. Aber…«
    »Bitte, sag es ihr!«
    Mrs Noyes – unsicher geworden – drückte Lottes Hand ein bisschen fester und hustete, bevor sie wieder sprach. Ihre nächsten Worte waren an Emma gerichtet.
    »Es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen«, fing sie an. »Es kommt mir unfair vor. Du und ich, wir haben unsere Meinungsverschiedenheiten gehabt – aber ich liebe dich, Em – das muss ich sagen, bevor ich anfange.«
    Die Worte bewirkten, dass es plötzlich still wurde. Selbst Doktor Noyes war beeindruckt. Emma hörte mit nüchternem Interesse zu und offensichtlich mit einer Ehrfurcht seiner Frau gegenüber, die er nie zuvor bemerkt hatte.
    Mrs Noyes fuhr fort – sie musste die Stimme nur so viel heben, dass man sie bei dem Regen verstehen konnte.
    »Man hat dir immer eingeredet«, sagte sie zu Emma, »dass eure Familie die einzige sei, die ein Lotte-Kind gekriegt hat. Das ist schlicht und einfach nicht wahr. Andere Leute bekommen sie ebenfalls – auch Doktor Noyes (sie sah ihn fast zärtlich an) und ich. Wir hatten ein Lotte-Kind. Vor achtzehn Jahren.«
    Emma erschrak, aber sie schwieg. Es stimmte: Man hatte ihr immer erzählt, dass Lotte einzigartig sei – und dass man sie nie erwähnen dürfe. Andere Leute würden das nicht verstehen… Sie blickte erst Mrs Noyes an, dann Lotte, die sie abgöttisch liebte – und zum Schluss Doktor Noyes, der sich abwandte.
    »Es gibt etwas, was du vielleicht weißt, vielleicht auch nicht«, sagte Mrs Noyes. »Vor vielen Jahren hatten der Doktor und ich eine ganz andere Familie. Viele viele Kinder – zehn, um genau zu sein. Aber sie sind alle gestorben. Die Pest ging um, weißt du, und hat sechs getötet. Sechs wunderbare Kinder – tot, einfach so.«
    Doktor Noyes warf ihr einen missmutigen Blick zu und sagte: »Mach weiter!«
    Mrs Noyes fuhr fort: »Die anderen vier Kinder starben aus anderen Gründen: Unfälle, Fieber, Tiere. Doktor Noyes und ich brauchten sehr viel Zeit, um uns von all diesen Todesfällen zu erholen. Wir liebten unsere Kinder sehr…«
    »Mach weiter, meine Liebe!«
    Mrs Noyes hustete. Dann sagte sie: »Mit der Zeit fingen wir wieder an. Andere Kinder. Mehr. Eine ganz neue Familie. Als erstes dieser Kinder kam Sem – eine Zeit lang war er der Einzige, der am Leben blieb. Wir bekamen – ich weiß nicht mehr genau – noch zwei oder drei, die starben. Dann Ham. Und dann…«
    Plötzlich hustete Doktor Noyes, sehr heftig und laut.
    »Willst du nicht, dass ich es sage?«, fragte Mrs Noyes.
    Doktor Noyes forderte sie mit einem Wink auf weiterzureden, dann starrte er verdrießlich in die Ferne.
    »Als Japeth geboren wurde…«, begann Mrs Noyes – aber sie konnte nicht weiter.
    Emma – die mit gerunzelter Stirn ganz konzentriert dastand und deren Finger sich am Griff des Schirmes beim Zählen bewegten, rief plötzlich: »Achtzehn!«
    Mrs Noyes wartete ab.
    »Japeth ist achtzehn«, sagte Emma.
    Mrs Noyes nickte. Lotte zappelte, also hob sie sie hoch und hielt sie unter ihr Tuch; unter ihrem Kinn schaute nur der Kopf des Kindes hervor.
    Ein wilder, wahnsinniger Blick der Verständnislosigkeit stand in Emmas Augen. »Aber du hast gesagt, dieses andere Lotte-Kind wurde vor achtzehn Jahren geboren…«
    Dieses Mal nickte Mrs Noyes nicht einmal. Sie ließ Emma reden.
    »Willst du mir sagen…. dass…?« Nein. Es war unmöglich. Japeth war nicht wie Lotte. »Ich verstehe nicht«, sagte Emma endlich, völlig perplex.
    »Japeth hatte einen Zwilling«, sagte Mrs Noyes.
    Stille.
    »Oh, nein«, sagte Emma leise. »Du willst sagen, er hatte einen Zwilling wie Lotte?«
    »Das stimmt.«
    Wieder Stille – dann nochmals: »Oh, nein.«
    Mrs Noyes fragt ihren Mann.

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