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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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stieß sie dieses Etwas mit dem Fuß weg und ignorierte es.
    Das Boot zu erreichen war relativ einfach. Es war sehr nahe herangetrieben, sie musste es lediglich am Heck packen und einmal kräftig ziehen.
    Als sie das tat, fiel der Mann über seine Ruder nach vorne. Ich werde sagen, dass er schläft, entschied Mrs Noyes. Ich werde ihn einfach in den Bug setzen und ihr sagen, dass der arme Mann erschöpft ist, weil er von den Städten bis hierher gerudert ist.
    Es war offensichtlich ein Mann aus der Stadt mit sehr feiner Kleidung und gepflegten Fingernägeln. Er konnte noch nicht sehr lange tot sein, denn seine Leiche war noch ziemlich beweglich, als Mrs Noyes ihn in den Bug verlagerte und ihm eine würdige Haltung – den Kopf gesenkt und die Arme gefaltet – verlieh.
    Herzinfarkt, meinte sie. Glück gehabt.
    »Komm, Lotte, es geht los!«
     
     
    Lotte kauerte im Heck, Mrs Noyes saß ihr gegenüber und ruderte. Glücklicherweise verdeckte Mrs Noyes’ beachtliche Gestalt den Bootsbesitzer wirksam vor den Augen des Kindes. Lotte hatte die Geschichte von der Überanstrengung und Erschöpfung offenbar völlig akzeptiert.
    Mrs Noyes versuchte nicht das Wasser, sondern nur das gegenüberliegende Ufer anzuschauen, als sie sich ab und zu umdrehte und über ihre Schulter sah.
    Es waren keine Schafe mehr da – das war ein Segen. Allerdings gab es viele Gegenstände – am erstaunlichsten eine komplette Wäscheleine; die Kleidung einer ganzen Familie – Mutter, Vater, Kinder, Säuglinge – hing noch daran und winkte aus dem schlammigen Wasser.
     
     
    Als sie am anderen Ufer ankamen, erklärte Mrs Noyes Lotte, dass der schlummernde Herr (»Ist er nicht ein Bild der Bequemlichkeit?«) seine Reise wahrscheinlich gerne fortsetzen möchte, auch wenn er schlief. Er würde sicher vor Erreichen seines Zieles wieder aufwachen – also sollten sie ihn ruhig weiterfahren lassen.
    »Ade«, sagte sie. »Geh in Frieden!« Worauf sie das Ruderboot sanft in die Mitte des reißendes Stromes zurückstieß. Binnen weniger Augenblicke war es fort und mit ihm ihr ahnungsloser Retter.
    Nachdem sie ein paar Äpfel gegessen hatten, gingen Mrs Noyes und Lotte – Hand in Hand – den Berg hinauf. »Hab keine Angst!«
    Emma wurde hinausgeführt und musste mit Doktor Noyes und Hannah unter dem schwarzen Regenschirm stehen und vom Deck der Arche hinunterschauen.
    Als sie Lotte erblickte, schrak Emma zurück. Sie hatte Angst. Lotte war ein Geheimnis und schon vor langer Zeit hatte Emma schwören müssen, dass sie niemals von Lottes Existenz erzählen würde. Und jetzt stand sie hier, wo jeder sie sehen konnte. Auch wenn Emma sich freute, als sie ihre Schwester erblickte, machte sie Anstalten, sich zu verstecken. Doch Hannah schob sie auf ihren Platz zurück und Doktor Noyes hielt sie mit einer Hand am Nacken fest.
    »Bist du sicher«, fragte Mrs Noyes – an ihren Mann gewandt –, »dass Hannah mithören soll, was ich zu sagen habe?«
    Das warf Noah förmlich um. Er hatte zwar geahnt, dass hinter Mrs Noyes’ Schachzug ein Trick steckte, doch einen Trick unter der Gürtellinie, darauf war er nicht gefasst. Er überlegte einen Augenblick, ob es schaden könnte, falls Hannah bleiben würde. Er und seine Frau hatten sich so endgültig entschieden, das Thema Lotte und… andere Lotte-ähnliche Kinder… niemals zu erwähnen. Er konnte nicht glauben, dass Mrs Noyes wirklich vorhatte, ihr Geheimnis zu verraten. Und doch – sie kämpfte um ihr eigenes und Lottes Leben – was nur bedeuten konnte, dass ihr alle Mittel recht waren.
    Er nickte und wandte sich an Hannah.
    »Geh hinein!«, sagte er. »Ich werde dich rufen, wenn das hier vorbei ist.«
    Hannah musste eine Menge Selbstbeherrschung aufbringen, um ihre Neugierde zu bändigen und ein höfliches »Ja, Herr Schwiegervater« als Antwort herauszupressen. Widerwillig reichte sie Emma den schwarzen Schirm und schärfte ihr ein: »Vergiss nicht, es gibt viel zu tun! Wenn das hier vorbei ist, erwarte ich dich in der Kombüse.«
    Emma zog ihr Taschentuch (einen Lumpen) heraus und putzte sich die Nase, dabei nahm sie den Schirm in die andere Hand. Doktor Noyes ließ ihren Nacken los und sie stand jetzt duldsam neben ihm und hoffte, dass das, was jetzt geschehen würde, ein gutes Ende nehmen möge.
    Als Hannah sicher außer Hörweite war, blickte Doktor Noyes auf seine Frau und Lotte hinunter und sagte: »Na gut. Sag mir, was du zu sagen hast! Aber denk dran… Emma ist hier, um sich von ihrer Schwester zu

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