Die letzte Flut
das Wasser nicht mehr nur von oben; es hatte angefangen aus der Erde selbst zu steigen. In den Felsen taten sich Spalten auf und ließen alle unterirdischen Flüsse hervortreten. Brunnen explodierten und riesig hohe Fontänen schossen in die Luft, bis sogar diese ertranken, da die Berghänge zerbröckelten und der Erdboden nachgab.
Auf ihrem Kielrahmen begann die Arche zu schütteln und zu rütteln; sie bekam Schlagseite. In der Finsternis schrien die Tiere, als sie den Halt verloren und gegen Wände und Gitter geschleudert wurden. Mrs Noyes und Luci hielten sich an den mit Äpfeln gefüllten Schürzen und aneinander fest, während sie unter einem entsetzlichen Knacken und Knarren zu Boden geworfen wurden; es klang, als sollte die Arche noch vor dem Start auseinander gerissen werden.
Vögel hoben in ihren Käfigen ab, und wegen der Finsternis verloren sie die Orientierung und fielen nieder wie Steine.
Noah lag ausgestreckt auf dem Fußboden seiner Kajüte und betete mit lauter und wütender Stimme; er flehte Jahwe an, er möge »die Arche sofort wieder aufrichten!« Und als all sein Flehen nicht erhört wurde, rief Noah noch einmal – aber diesmal nach Schwester Hannah.
Schließlich senkte sich der Himmel ganz – und das Wasser stieg ihm entgegen, und ein riesiger hallender Knall ließ die ganze Schöpfung erzittern und begleitet von einem riesigen Seufzer der Erleichterung richtete sich die Arche auf und trieb frei davon, weg von ihrem Stützrahmen und von ihrem Berghang und – überhaupt – von der ganzen Erde, die mit einem Zischen unter den Wellen verschwand, die aufgestiegen waren, um sie einzufordern.
Langsam erhoben sich Mensch und Tier auf die Knie und – noch langsamer – auf die Füße. Jeder Einzelne von ihnen prüfte, ob der Fußboden noch da war – und ob die Wände noch da waren – und die Stangen und die Drahtgitter der Käfige. Und jeder Einzelne von ihnen murmelte eine Art Dank – eigentlich mehr eine Feststellung, dass man noch am Leben war. Und jeder Einzelne von ihnen stand da und wartete – und fragte sich, was wohl als Nächstes geschehen würde.
Doch das Einzige, was man hören konnte, waren Geräusche des Atmens und das Schlagen des eigenen Herzens unter dem Regen.
Als Mrs Noyes die Äpfel aufs Deck gehievt hatte – sie war so erschöpft, dass sie fast auf Händen und Knien den Landungssteg hochkrabbeln musste –, konnte man ein gedämpftes Stimmenduo wahrnehmen: zuerst aus dem Innern der einen Schürze – dann aus dem der anderen – sie verschmolzen zu einem gemeinsamen Klageruf.
Aus der ersten Schürze klang Mottyls Stimme: »Schnell! Schnell! Bei mir geht’s los!«
Und aus den Falten der zweiten Schürze Krähes unverwechselbares Krächzen: »Könntest du so nett sein und mich rauslassen? Ich fürchte, ich kriege hier einfach keine Luft.«
Und Mottyl flüsterte wieder: »Schnell! Schnell!«
Und Krähe noch einmal: »Bitte…«
Mrs Noyes inspizierte das regennasse Deck von oben bis unten, und da niemand zu sehen war, der die Befreiung der blinden Passagiere hätte beobachten können, ging sie vor Krähes Schürze auf die Knie und – sie musste dabei gegen die vielen Knoten kämpfen, jeder Fingernagel, der nicht schon vorher eingerissen war, spaltete sich jetzt oder brach ab – ließ Krähe frei.
»Was wirst du tun?«, fragte sie. »Ich bitte dich, pass auf! Ich habe solche Angst vor Japeth.«
Krähe, die immer noch – wenn auch nicht gänzlich – mit Gold überzogen war, beruhigte sie: »Du musst aufhören, meinetwegen Angst zu haben, Mrs Noyes. Kümmere dich vor allem um Mottyl…«
»Ja!«, stöhnte Mottyl, »bitte!«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fügte Krähe hinzu. »Ich finde schon eine Möglichkeit, bei der Arche zu bleiben.«
Mrs Noyes wies auf den geschützten Kamin, der vom Dach der Kapelle über Noahs Opferaltar aufragte, und sagte: »Solange es kein Brandopfer gibt, dürftest du da drinnen sicher sein.«
Krähe bedankte sich und versuchte vom Deck aufzufliegen – aber die Vergoldung und der Luftmangel der letzten paar Stunden hielten sie am Boden fest. »Ich werde zu Fuß gehen müssen«, stammelte sie. Gesagt, getan: Von einer Seite zur anderen schwankend watschelte sie weg und schleifte dabei mühsam die goldschwarzen Flügel das Deck entlang.
»Schnell!« Mottyls Stimme drängte. »Schnell! Ich hab schon eins gekriegt…«
Mrs Noyes hatte die Falten von Krähes Schürze wieder geordnet und war gerade dabei, den
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