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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Findley
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alles ist ziemlich kaputt, fürchte ich«, sagte Ham. »Wo doch die Arche gekentert ist…«
    »Sind wir gekentert?«, fragte Noah.
    »Nun… wie man es nennen will«, sagte Ham. »Es war eben, als wären wir gekentert…«
    Noah wandte sich an Hannah und lächelte sie an. »Wusstest du das, Tochter? Dass wir gekentert sind?«
    Hannah richtete den Blick nach unten auf ihre gefalteten Hände und Mrs Noyes fiel auf, wie sauber sie waren. Solch schöne heile Nägel, und die Nagelhaut war durchweg so weiß wie Taubeneier.
    »Es gab einiges… Durcheinander«, sagte Hannah, die verlegen schien – und Mrs Noyes fragte sich warum. »Aber – eigentlich kaum Schwierigkeiten…«, schloss sie.
    »Also dann.« Noah wandte sich wieder an Ham. »Schluss mit Geschichten vom ›Kentern‹. Als Nächstes wirst du diese Bö einen Sturm nennen und das als Ausrede benutzen.« Er winkte mit der Hand, ließ das Thema fallen. »Na, du hast immer zu Übertreibungen geneigt, Junge. Kann alles bis morgen Früh wieder in Ordnung gebracht werden?«
    »Das glaube ich gerne, Vater – wenn Sem und Japeth auch mithelfen würden.«
    Noah lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm seine Serviette, um damit seinen Schnurrbart zu glätten, der, wie Mrs Noyes jetzt bemerkte, gestutzt worden war, so dass er jetzt schön in den Backenbart überging.
    »Sem und Japeth dürfen euch dieses eine Mal helfen«, sagte er. »Sem kann die Aufsicht führen. Das gibt ihm die Gelegenheit, die Vorräte zu überprüfen. Wir werden natürlich rationieren müssen. Vielleicht sollten wir uns irgendein System mit Schlössern und Schlüsseln ausdenken…« Er winkte Hannah zu, die einen vierbeinigen Hocker an den Tisch zog, sich darauf setzte und in ein selbst gemachtes Heft mit Bleistift zu schreiben begann: Aufteilung der Schlösser und Schlüssel …
    »Seien Sie nicht lächerlich, Vater!«, sagte Ham. »Niemand wird mit dem Heu abhauen…« Er lachte.
    Noah lachte nicht.
    »Ich dachte an deine Mutter«, sagte er. »Und an ihre angeborene Schwäche für Taten der Nächstenliebe.« Er bewegte seine Finger über die Tischplatte, klaubte Krümel und Kümmelsamen auf und steckte sie in den Mund. »Nächstenliebe …« (er verdrehte das Wort, die Lippen nach vorn geschoben – als würde er in eine Fremdsprache gleiten), »Nächstenliebe ist in den besten Zeiten verschwenderisch, aber in Zeiten wie diesen – ist sie kriminell.«
    »Entschuldigung«, sagte Emma, »aber ich muss wirklich…«
    »Wurdest du angesprochen?«, fragte Noah.
    »Nein, Herr«, sagte Emma. »Nicht, dass ich es mitbekommen habe. Aber…«
    »Wurdest du angesprochen?«
    Emma wickelte ein Bein um das andere und ließ den Kopf hängen – der Mund hing auch offen…
    »Sie braucht die Latrine«, sagte Mrs Noyes.
    »Sie braucht einmal Kielholen«, sagte Noah. »Das braucht sie. Schau sie an! Von Kopf bis Fuß dreckig. Und sie stinkt…«
    Mrs Noyes seufzte laut, um das zu unterbrechen, was sich wie der Anfang der allzu vertrauten Litanei mit den Fehlern der armen Emma anhörte.
    »Was ist ›Kielholen‹, Liebling?«, fragte sie, ganz heiter. Seit über sechzig Jahren hatte sie Noah nicht mehr »Liebling« genannt.
    Noah ignorierte das Epitheton (er hätte es als Epitheton betrachtet) – und machte sich bereit, die Frage zu beantworten. Er hatte verschiedene Bücher und Broschüren zum Thema Seefahrt, Seekrieg und seemännische Fachausdrücke studiert – und war ziemlich stolz darauf, wie gut er das alles beherrschte. »Kielholen,« begann er, »ist…«
    In diesem Augenblick ließ Emma einen ihrer spektakuläreren Heulanfälle los und alle wichen erschrocken Richtung Wände zurück.
    »Ich will kein Kielholen!«, kreischte sie. »Mir ist gleich, was das ist! Ich kann nichts dafür, wenn ich einmal muss! ICH KANN NICHTS DAFÜR!!!«
    Sonst sprach niemand. Es war nicht genug Platz in der Luft für noch eine Stimme.
    Und dann kam es, wie es kommen musste: Da das Geheul so mächtig war, hatte es ihre ganze Anspannung gelöst – und Emmas Darm überflutete langsam ihren Schlüpfer.
    Immer noch sprach niemand. Was konnte man dazu schließlich sagen? Sie alle standen einfach da und schauten zu – die einen entsetzt, die anderen angeekelt –, wie Emma die Kontrolle über ihren Schließmuskel völlig verlor, ihren Schlüpfer mit beiden Händen fasste und aus dem Zimmer rannte.
    In die darauf folgende Stille trat Sem herein.
    »Was ist denn hier los?«, fragte er.
    Niemand antwortete.
    Und dann muss Sem

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