Die letzte Generation: Roman (German Edition)
so häufig auch das Gegenteil behauptet wurde. Ein Londoner aus dem vorigen Jahrhundert hätte sich noch immer – zumindest im Stadtzentrum – ohne Schwierigkeit zurechtfinden können. Neue Brücken führten über die Themse, aber an den alten Stellen. Die großen hässlichen Bahnhöfe waren verschwunden und in die Vororte verbannt worden. Doch das Parlamentsgebäude war unverändert. Nelsons Auge blickte noch immer auf Whitehall, die St. Pauls Cathedral erhob sich noch immer auf Ludgate Hill, auch wenn ihr jetzt höhere Bauten die Vorherrschaft streitig machten.
Und die Wache marschierte noch immer vor dem Buckingham-Palast auf und ab.
Alle diese Dinge, dachte Jan, konnten warten. Es war Ferienzeit, und er wohnte mit seinen beiden Studiengenossen in einem der Studentenhäuser der Universität. Auch Bloomsbury hatte in den letzten hundert Jahren seinen Charakter nicht verändert und war eine Insel von Hotels und Pensionshäusern geblieben, obwohl sie sich nicht mehr so dicht drängten oder so endlose gleichförmige Reihen von rußbedeckten Mauern bildeten.
Erst am zweiten Tag des Kongresses kam Jans Gelegenheit. Die Hauptvorträge fanden im großen Versammlungsraum des Wissenschaftszentrums statt, nicht weit von der Konzerthalle, die so viel dazu beigetragen hatte, London zur Musikmetropole der Welt zu machen. Jan wollte den ersten Vortrag des Tages hören, der, wie das Gerücht ging, die gängige Theorie über die Entstehung der Planeten völlig zerstören sollte.
Vielleicht tat er das wirklich, aber Jan war kaum klüger, als er nach der Pause ging. Er eilte nach unten und sah auf dem Plan nach, wohin er sich begeben musste.
Ein humorvoller Beamter hatte die Königliche Astronomische Gesellschaft im obersten Stock des großen Gebäudes untergebracht, eine Geste, die die Mitglieder des Rates zu schätzen wussten, da sie ihnen einen prachtvollen Blick auf die Themse und den gesamten nördlichen Teil der Stadt sicherte. Hier schien sich niemand aufzuhalten, aber Jan, der seine Mitgliedskarte wie einen Pass bereithielt, falls jemand ihn kontrollieren wollte, hatte keine Schwierigkeiten, die Bibliothek zu finden.
Er brauchte fast eine Stunde, um zu finden, was er suchte, und um zu begreifen, wie man die großen Sternenkataloge mit ihren Millionen von Einträgen benutzte. Er zitterte ein wenig, als er sich dem Ende seiner Suche näherte, und war froh, dass niemand hier war, der seine Nervosität bemerkte.
Er stellte den Katalog ins Regal zurück und saß lange Zeit ganz still da, während er auf die Bücherwand starrte, ohne sie zu sehen. Dann ging er langsam auf die stillen Gänge hinaus, vorbei am Sekretariat – jetzt war jemand anwesend, der emsig Bücherpakete öffnete – und stieg die Treppen hinunter. Er verzichtete auf den Fahrstuhl, weil er frei und unbeschränkt sein wollte. Er hatte sich noch einen zweiten Vortrag anhören wollen, aber das war jetzt nicht mehr wichtig.
Seine Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, als er zur Kaimauer hinüberging und die Themse beobachtete, wie sie gemächlich zum Meer floss. Für jemanden wie ihn, der in orthodoxer Wissenschaft geschult war, war es schwer, den Beweis zu akzeptieren, der ihm in die Hände gefallen war. Er würde nie den Wahrheitsgehalt dieser Information bestätigen können, aber die Wahrscheinlichkeit war überwältigend. Während er langsam an der Flussmauer entlangging, ordnete er die Tatsachen.
Erste Tatsache: Niemand auf Ruperts Party hatte wissen können, dass er diese Frage stellen würde. Er hatte es selbst nicht gewusst. Es war eine spontane Reaktion auf die Umstände gewesen. Daher hatte niemand eine Antwort vorbereiten oder bereits im Sinn haben können.
Zweite Tatsache: »NGS 549672« sagte wahrscheinlich keinem Menschen etwas, außer einem Astronomen. Obwohl der National Geographic Survey schon vor einem halben Jahrhundert abgeschlossen worden war, wussten nur ein paar tausend Fachleute von dieser großen astronomischen Durchmusterung. Und wenn man irgendeine beliebige Zahl herausgriff, hätte niemand sagen können, wo sich dieser besondere Stern am Himmel befand.
Aber – und das war die dritte Tatsache, die er erst jetzt entdeckt hatte: Der als NGS 549672 bekannte kleine und unbedeutende Stern stand genau am richtigen Platz. Er befand sich im Herzen des Sternbildes Carina, des »Schiffskiels«, am Ende jener schimmernden Lichtspur, die Jan selbst vor wenigen Nächten gesehen hatte.
Es konnte unmöglich ein Zufall sein.
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