Die letzte Hürde
und hatte versucht, die Spuren ihrer Verzweiflung so gut wie möglich mit kaltem Wasser abzuwaschen. Dann hatte sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt und das strahlende Lächeln eingeübt, mit dem sie Onkel Paul über ihre Verfassung hinwegtäuschen wollte. Mitleid hätte sie jetzt nicht ertragen; die Zeiten waren vorbei, in denen sie sich schluchzend an seinerJacke versteckt hatte. Niemand sollte erfahren, was geschehen war.
Doch sie hatte nicht mit Hannes Horbachs Scharfblick gerechnet. Nach einem prüfenden Blick in ihr Gesicht, auf ihr allzu forsches „Hi! Das ist aber eine Überraschung!“ hatte er schweigend ihre Tasche gegriffen und war zu seinem Landrover vorausgegangen. Nur kurz hatte er erklärt, daß er ohnehin in Hamburg etwas erledigen mußte, und daß es sich angeboten hätte, sie mitzunehmen.
Auf der Fahrt aus der Stadt schwiegen sie. Erst als sie ein beträchtliches Stück auf der Autobahn hinter sich gebracht hatten, sah Hannes zu Bille hinüber. „War ein totaler Reinfall, wie?“
„So was in der Art, ja!“
„Kann ich dir helfen?“
„Glaube ich nicht. Doch ja, niemandem etwas sagen. Damit muß ich allein klarkommen, verstehst du?“
„Und ob. Schließlich gehöre ich auch zu den Partner-Geschädigten. Ist noch nicht lange her!“
„Und es tut immer noch weh?“ fragte Bille vorsichtig.
„Ja. Es tut immer noch weh. Also, wenn du mich fragst, dagegen gibt’s nur ein Mittel. Arbeiten.“
„Du wirst lachen, so was Ähnliches habe ich mir auch gesagt. Und es ist verrückt, ich kann mich sogar freuen auf die Arbeit!“ Es klang kläglich.
Hannes Horbach streckte Bille die Hand hin. „Willkommen im Club, Kumpel!“
„Im Club der gebrochenen Herzen?“
„Wenn du’s so nennen willst!“
Bille nickte. „Ich weiß nicht. Vielleicht doch lieber: Club der Unbesiegbaren. Der wird mich noch kennenlernen!“
Neue Aufgaben für Bille
Gleich nach der Morgenfütterung ritt Bille am nächsten Tag zum Reitclub Wedenbruck hinüber, um Hannes und Mirko bei der Arbeit zuzusehen. Sie ritt den Wallach
Janosch und führte Luzifer als Handpferd mit. Im wöchentlichen Turnus sollten die beiden gegen die Stute Regula, die der Liebling der Internatsschüler war und von allen nur Reggi genannt wurde, und den Schwarzschimmel Bobby ausgetauscht werden, damit jedes der Schulpferde zu seinem wohlverdienten Urlaub kam.
Bille sattelte Janosch vor dem Stall ab und entließ die beiden Pferde in den Paddock, dann ging sie auf die Suche nach der Stallmannschaft. Anke und Rita hockten bei Bruni im Büro und tranken Kaffee. Seit es mit dem Reitclub Wedenbruck aufwärtsging, waren die drei ein Herz und eine Seele.
„Frühstückt ihr schon wieder oder immer noch?“ fragte Bille lachend. „Ich habe euch zwei Pferde zum Umtauschen gebracht.“
„Pferde Umtauschen, wie sich das anhört! Willst du auch einen Kaffee?“ fragte Bruni.
„Nein, danke, laß man, ich muß bald zurück mit den anderen beiden. Will nur schnell Mirko und Hannes begrüßen.“
„Mirko ist in der Halle, er gibt Unterricht. Einzelstunde, die kleine Tochter von Uwe Möller. Auf einem Schulpferd. Die Stute, die Uwe ihr gekauft hat, ist nicht zu reiten, die nimmt Hannes gerade in die Kur“, berichtete Anke. „Er ist hinten auf dem Außenplatz mit ihr.“
„Gut, das schaue ich mir mal an. Bist du so lieb und sattelst mir inzwischen Regula?“
„Ausnahmsweise, weil du’s bist.“
„Mein Dank wird dich ewig verfolgen!“ scherzte Bille.
Merkwürdig, dachte sie, während sie zum Außenreitplatz hinüberging. Kaum stecke ich wieder bis über die Ohren in der Arbeit und habe die Pferde um mich, ist alles andere vergessen. Nein, nicht vergessen, aber ganz, ganz weit weg. Wie hinter einem dicken Vorhang. Ohne die Pferde wär’s jedenfalls nicht zum Aushalten.
Hannes stand dicht an der Fuchsstute und berührte mit sanftem Druck alle Partien ihres Rückens und der Schultern. Von weitem sah es so aus, als führten er und das Pferd eine sehr persönliche Unterhaltung. Bille blieb am Rande des Platzes stehen, um die beiden nicht zu stören.
„Komm her!“ rief Hannes. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Bille näherte sich den beiden langsam, um die Stute nicht zu erschrecken, und trat neben den jungen Reitlehrer.
„Das erste, was du tun mußt, wenn du ein schwieriges Pferd in die Hände bekommst, ist, es dir sehr genau anzusehen. Denn aus den Körpermerkmalen, vor allem dem Kopf, kannst du bereits sehr viel über seinen Charakter und
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