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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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jetzt?»
    «Wir werfen
zuerst einen Blick auf die Wohnung», sagte Tron. «Hier
herrscht ja ein gewisses Chaos.» Er musterte die Küche
und sah erst jetzt, dass er eher untertrieben hatte.
    Jemand hatte
sämtliche Küchenschränke geöffnet und einen
Teil der Pfannen, Töpfe und Teller flüchtig auf den
Fußboden gestellt. Dem kleinen Vorratsschrank neben dem Herd
war das gleiche Schicksal widerfahren. Auch hier standen die
Türen auf, und auf den Regalbrettern lag alles wirr
übereinander. In Flytes Arbeitszimmer herrschte das gleiche
Chaos. Die Schubladen seines Schreibtisches waren herausgezogen und
durchwühlt, Papiere lagen in wirren Haufen auf dem Boden. Es
sah aus, als hätte Flyte, bevor er über das Gerüst
aus der Wohnung geflüchtet war, noch verzweifelt nach etwas
gesucht. Oder, dachte Tron, der plötzlich ein unangenehmes
Gefühl in der Magengrube hatte, das Chaos hatte ganz andere
Gründe.
    «Was hat Flyte
gesucht, um es unbedingt mitzunehmen?», fragte
Bossi.
    «Vielleicht hat
er gar nichts gesucht», entgegnete Tron.
    «Wie
bitte?»
    «Flyte war ein
Ordnungsfanatiker», sagte Tron nachdenklich. «Dass er
überhaupt etwas in seiner Wohnung suchen musste, ist
äußerst unwahrscheinlich. So sehen Wohnungen aus, in die
ein Einbruch verübt wurde.»
    «Was soll das
heißen?»
    «Das könnte
heißen, dass gar nicht Flyte vor uns geflüchtet
ist.»
    «Wir haben einen
Einbrecher überrascht?»
    «Ich würde
es nicht ausschließen», sagte Tron.
    «Und wo steckt
Flyte?»
    «Vielleicht
sitzt er irgendwo fest und wartet darauf, dass der Sturm
aufhört», sagte Tron.
    «Ob Teile der
Tagebücher hier sind?»
    Tron schüttelte
den Kopf. «Es gab eine Vereinbarung zwischen Flyte und der
Marciana. Flyte musste alle Arbeiten an Ort und Stelle erledigen.
Die Frage ist allerdings, ob er sich daran gehalten
hat.»
    Im Schlafzimmer, das
sie anschließend betraten, sah es nicht viel besser aus.
Flytes Kleidung - Hemden, Hosen, Pullover - waren aus dem
Kleiderschrank gerissen und auf dem Fußboden verstreut
worden. Jemand hatte Flytes Nachttisch neben dem Bett ein
Stück von der Wand abgerückt und einfach nach vorne
gekippt, sodass die Schubladen auf den Boden gerutscht waren.
Über Flytes Bett war eine große braune Wolldecke
gebreitet, die fast bis auf den Fußboden herabhing, und als
Bossi die Decke entfernen wollte, sahen sie den Fuß. Er
steckte in einem samtenen Hausschuh und ragte eine Handbreit unter
dem Bett hervor. Der Samt war grün, die Hausschuhe schienen
mit Fell gefüttert zu sein. Genau das Richtige, dachte Tron,
für kalte venezianische Terrazzoböden. Aber wer immer
dort unter dem Bett lag - er hatte sich kaum freiwillig in diese
Lage begeben. Und er war vermutlich tot. Auf einen Wink Trons
bückte sich Bossi und zog die Leiche vorsichtig unter dem Bett
hervor.
    Bossi holte japsend
Luft, während er sich abrupt aufrichtete. «O Dio
mio!», rief er.
    Flyte hatte die Augen
geschlossen - jedenfalls das linke, denn das rechte existierte
nicht mehr. An der Schläfe war eine große, blutige Wunde
erkennbar. Das Blut war noch nicht getrocknet, es glänzte im
Schein der Petroleumlampe an Flytes Schläfe, und es
glänzte ebenso auf dem Marmorsockel einer bronzenen Venus, die
Bossi jetzt unter dem Bett hervorzog. Die Figur ähnelte einer
Keule und war wunderbar geeignet, um ihren runden Sockel auf einen
Schädel niedersausen zu lassen.
    Tron ging in die Knie,
um den Toten näher zu betrachten. Flyte trug eine legere
Hausjacke, darunter ein kariertes Hemd aus Wollstoff. Beide
Manschetten waren eingerissen und voller Blutflecken. Flytes rechte
Hand wies das auf, was Dr. Lionardo später in seinem
Sektionsbericht als Abwehrverletzung bezeichnen würde:
eine blutige Abschürfung, die sich über alle vier
Knöchel zog. Die linke Hand hatte Flyte zu einer Faust
geballt, so als würde sie mit aller Gewalt etwas
umschließen. Tron berührte sie kurz und stellte fest,
dass der rigor mortis, die Totenstarre, noch
nicht eingetreten war. Als er die Finger vorsichtig auseinanderbog,
sah er, dass sich die Hand um einen goldenen Siegelring geschlossen
hatte. Das Wappen auf dem Siegelring bestand aus einem Oval mit
vier diagonal angeordneten Streifen, wobei die äußeren
Streifen in den Rand des Ovals übergingen. Tron hatte es
hundertmal in seinem Leben gesehen. Jeder, der mit der Geschichte
Venedigs vertraut war, erkannte es sofort.
    Er stand auf und
reichte Bossi den Ring. «Dieser Ring ist kein Beweis»,
sagte er ruhig.

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