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Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Titel: Die Letzte Liebe Meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Verhulst
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meinst du dann, was die denken?«
    »Dass du Wannes heißt?«
    »Jetzt hör mal gut zu, Jimmy. Wir hätten auch ohne dich in Urlaub fahren können, kein Problem, auch nicht für deine Mutter. Ohne dich wäre es nicht nur viel billiger geworden, sondern für uns – deine Mutter und mich – auch ein ganzes Stück ruhiger. Aber wir wollten dich dabeihaben, verstehst du, als Familie verreisen! Verstehst du das, Jimmy? Eine Familie! Für das Essen auf deinem Teller hab ich geschuftet! Nicht allein, auch deine Mutter rackert sich ab für uns. Aber ich auch! Und versteh mich nicht falsch, keiner muss mich dazu zwingen, aber du solltest schon wissen, dass ich, auch um deinen Magen zu füllen und dich anzuziehen, das ganze Jahr in der Scheißfabrik geschuftet hab. Ich bin vielleicht nicht dein Vater … na ja, ›vielleicht‹ – am Ende denkst du jetzt noch was Falsches … ich bin nicht dein Vater, Punktum, aber trotzdem bin ich es immer noch mehr, als es dein Vater je war. Stimmt’s oder stimmt’s nicht? Darum möchte ich, dass du von heute an ›Vater‹ zu mir sagst, ›Papa‹ geht auch, oder ›Pa‹ von mir aus. Wie’s dir am liebsten ist, wie’s dir am besten auf der Zunge liegt. Such es dir aus. Verstanden?«
    »Ja.«
    »Ja – wer?«
    »Ja, Wer!«
    Dieses Gespräch war auf Krieg angelegt, und Wannes war sich nicht sicher, ob er den Rotzlöffel besiegt hatte, nur mit sprachlichen Waffen. Auch für ihn war es darum eine Erlösung, als am Ende der Straße Martine auftauchte, rot angelaufen vor Hektik, doch mit beruhigtem Gemüt. Denn alles war jetzt gecheckt und noch mal gecheckt, der Urlaub konnte beginnen.
    »Und? War die Balkontür verriegelt?«
    »Ja, bombenfest zu. Aber doch gut, dass ich noch mal nachgesehen hab: Die Badewanne stand voll Wasser!«

Kapitel 9
    G ib irgendwem die Gelegenheit, die Identität zu wechseln, und er wird sie ergreifen. An sich arbeiten, an der Persönlichkeit, am Charakter, tut man ja ständig. Man würde gern öfter und klüger schweigen, wäre gern etwas geduldiger und weniger leicht gereizt, ein besserer dies, ein sensiblerer das. Etwas mehr Intelligenz ist auch immer willkommen, irgendwo unterm Schädel ist sicher noch Platz. Höchstwahrscheinlich würde ein Mensch, der zu Weggabelungen seiner Entwicklung zurückkehren dürfte, dort einen anderen Weg nehmen. Auf der Place de l’Étoile seines Lebens. Trotz seines geringen Alters wusste auch Jimmy davon schon ein Lied zu singen. Das vom Verlangen, jemand anders und damit fast sicher jemand Besserer zu sein. Mit seinen elf Jahren hatte er bereits Wege eingeschlagen, die er nie mehr verlassen sollte, will heißen Einbahnstraßen. So hätte er es damals natürlich noch nicht formuliert, doch er spürte, begriff es, und es belastete ihn. Chancen hatten sich ihm keine geboten, und wenn doch, hatte er sie verpasst. Auf dem Höhepunkt seiner fatalistischen Stimmungen war er überzeugt, dass die Möglichkeit, später zum Beispiel mal eine bedeutende Rolle in der Otorhinolaryngologie zu spielen, jetzt schon vertan war, und aus keinem anderen Grunde als dem, weil er im Unterricht über die Umrechnung von Stammbrüchen in Prozentzahlen nicht aufgepasst hatte. Nicht, dass er wirklich beabsichtigte, Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu werden, überhaupt nicht, aber die Tatsache, so früh schon im Leben die Chance auf etwas, das er gar nicht wollte, verspielt zu haben, betrachtete er als einen Anschlag auf den freien Willen und als ein Drama. Wie war es dann erst um die Chancen bestellt, etwas zu werden, was man wirklich gern wollte?
    Er hatte es bereits öfter gespürt, das Vergnügen, jemand anders zu sein. Oder genauer, für jemand anders gehalten zu werden, was oft genauso gut war. So erzählte er zum Beispiel neuen Freunden gern, er wäre Tiefseetaucher. Er, der sich schon in die Hosen machte, wenn er am Rand des Schwimmbeckens stand. Der bis zum Alter von neun noch Zeter und Mordio schrie, wenn seine Mutter die Wasserkanne über ihm ausgoss, um ihm den Schaum aus den (schlecht) gewaschenen Haaren zu spülen. Der immer noch panisch mit Schwimmhilfen um Arme und Bauch im Stadtbad strampelte, während er einen geeigneten Eröffnungssatz für seine anstehende Konversation mit dem heiligen Petrus probte. Ausgerechnet er stellte sich neuen Bekannten als Tiefseetaucher vor! Als Tiefseetaucher? Ach was – als Aquanaut! Nicht so sehr um anzugeben, mogelte er diese Freizeitbeschäftigung in seine Biographie hinein – obwohl das die einfachste

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