Die Letzte Liebe Meiner Mutter
diese Frage schon eine Antwort parat: vierzehn Jahre oder so. Das schien plausibel, vierzehn Jahre verheiratet. Warum nicht? Dann musste man zwar noch etwas an Wannes’ Geburtsjahr herumdrehen, aber sonst hatten Fremde nicht den geringsten Grund, an der Dauer ihrer Ehe zu zweifeln. Vor der Fahrt waren Wannes und Martine alle potenziellen Fragen möglicher künftiger Freunde durchgegangen und hatten sich Antworten überlegt. Mit diebischer Freude hatten sie sich abends im Bett eine gemeinsame Vergangenheit aus den Fingern gesaugt und waren danach bereit für die Reise. Die Reise der Tabula rasa. Der einzige Stolperstein war jetzt nur noch Jimmy. Wenn der Junge sich weigerte, »Vater« zu Wannes zu sagen, fiel ihr Plan schmählich ins Wasser, und die schöne Vergangenheit zerbrach wieder in zwei völlig getrennte Teile.
»Darum möchte ich, dass du von heute an ›Vater‹ zu mir sagst«, hatte Wannes gemeint, »›Papa‹ geht auch, oder ›Pa‹ von mir aus. Wie’s dir am liebsten ist, wie’s dir am besten auf der Zunge liegt. Such es dir aus …« Um kurz darauf noch der größeren Klarheit halber hinzuzufügen: »Solang du mich nur nicht mehr Wannes nennst, denn sonst setzt’s was!«
Verraten von seiner Mutter, die zu feige war, ihren Sohn selbst darum zu bitten. ( »Ach Junge, für mich ist das Theater gar nicht nötig, aber Wannes hätte so gern …« ) Ja, betrogen, gedemütigt, im Stich gelassen von seiner Mutter, die eine alberne Nummer mit einer unverriegelten Balkontür aufführt, nur um ihrem Liebhaber Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihrem Kind zu geben.
Kapitel 10
W enn irgendetwas einen großen und starken Charakter verriet, dann das Vermögen zu schweigen. Mochten Geschichtsbücher auch überquellen von großen Rhetoren und ihren Ergüssen und Philosophen voll Überzeugung behaupten, dass es die denkende Mündigkeit ist, die den Menschen zu seiner höchsten Bestimmung erhebt – erst durch das Schweigen erreicht er den Zustand wahrhafter Größe. Das wussten schon die Kartäuser, die ihre Tage in völliger Stille verbrachten. Und zwar nicht aus gottergebener Demut, obwohl dies zunächst so aussehen mag, sondern in der stillen Gewissheit, weit über dem alltäglichen Gerede zu stehen.
Ein Schulkamerad hatte Jimmy einmal von einem kontemplativen Klosterorden erzählt, den Namen hatte er leider vergessen, dessen Mönche bei vegetarischer Kost auf einer kaum zugänglichen Insel lebten, gehüllt in Kutten, die aus Ziegenbärten gewirkt waren. Sie schliefen wenig, und wenn, dann aufrecht stehend oder in beschwerlichen Posen. In ihrem Streben nach völliger Entsagung pinkelten sie freihändig, um nur ja nicht berühren zu müssen, was sich so gerne berühren lässt. Doch all diese irdischen Eintrittsübungen für den Himmel waren nichts im Vergleich zu dem oft unterschätzten, selbst auferlegten Gelübde des Schweigens: in völliger Stille zu leben, bis der Tod sie in eine vollkommnere Stille hineinführen würde. Gebete wurden weder gesungen noch gewispert, da Gott – und Gott allein – die Worte schon hörte, noch eh sie gesprochen.
Obwohl Jimmy selber kaum fähig war, länger als eine Stunde den Schnabel zu halten, war er total fasziniert von den Geschichten über die Anhänger Wischnus, die die Kunst des Mauna betrieben. So unbedingt und radikal schwiegen einige dieser komischen Käuze, dass sie durch die tiefe Meditation ihr Sprachzentrum in ein künstliches Koma versetzten. Wie viele Jahre sie so schweigend verbrachten, spielte gar keine Rolle, solange es sich dabei um ein Vielfaches von zwölf handelte.
Meister des Schweigens, so wusste Jimmy, besitzen in Indien fast göttlichen Status. Die Leiche solch eines Meisters braucht denn auch nicht verbrannt zu werden, da sein Leib die Erde nicht beschmutzen kann. Der Boden will die Verwesung von etwas, das bereits faulig ist, nicht in sich dulden. Nur Meister des Schweigens lässt er in sich zu. Denn die sind heilig. Meister des Schweigens und Kühe. Der Rest muss brennen.
Hatte Jimmy die Macht des Verstummens nicht selbst schon entdeckt? Natürlich, erst letztes Schuljahr, als er eine Stinkbombe im Hauptflur geworfen hatte und prompt im Direktorenzimmer gelandet war. Der gute Mann war verärgert, weil er seit Stunden in einem Fäkaliengeruch arbeiten musste, der sich auch vom stärksten Zigarrenqualm nicht vertreiben ließ, und schnauzte Jimmy an, was er sich einbilden würde, solch kindische Albernheiten zu treiben. Schweigend hatte Jimmy
Weitere Kostenlose Bücher