Die Letzte Liebe Meiner Mutter
die Donnerpredigt ausgesessen, weil ihm das am einfachsten schien. Doch je länger er schwieg, desto wütender wurde der Rektor. Und obwohl das den Umfang der Strafarbeit drastisch erhöhte, hatte Jimmy seine Aktion, diesen Beweis äußerster Willenskraft, als Sieg über den Direktor betrachtet. Ein Pyrrhussieg möglicherweise, doch ein Sieg immerhin. Aus seiner Strafarbeit, sechsunddreißig eng linierte Seiten zum Thema »Leben und Arbeiten in einer Schule, die nach Scheiße stinkt«, hatte er ein kleines Meisterwerk gemacht. Selbst auf Schönschrift hatte er dabei geachtet, um seine mentale Unangreifbarkeit zu demonstrieren.
Der Bus kam in Sicht. Damals hatte Jimmy noch gute Augen und konnte lesen, was auf der Seitenwand ihres Luxusgefährts stand: »Der Schwarzwald beginnt mit van Boterdael.« Die Aussicht, dass es jetzt endlich in Urlaub ging, hätte eigentlich Hochstimmung in ihm auslösen müssen – Urlaub im Ausland auch noch! (Wie er sich auf das neue Schuljahr schon freute, wenn er seinen Kameraden davon erzählen könnte!) Auch nervös hätte er sein müssen, weil sich gleich herausstellen würde, ob außer ihm noch andere Kinder im Bus wären. Hoffentlich Jungen in seinem Alter, mit denen er die Rückbank besetzen könnte, um dann anderen Straßenbenutzern die Mittelfinger und Zungen entgegenzustrecken. Und um, begeistert vom Wir-Gefühl, allen Wagen mit belgischem Nummernschild patriotisch erfreut zuzuwinken. Und natürlich auch um – einmal angekommen im Lande der Bratwurst – mit ihnen Blödsinn zu treiben.
Momentan jedoch beschäftigte Jimmy vor allem sein unumstößlicher Vorsatz, kein Wort mehr mit Wannes zu reden. Ganz einfach: Wenn er den Typen nicht mit dem Vornamen ansprechen durfte, würde er eben gar nicht mehr mit ihm reden. Die ganze Reise nicht mehr. Bitte schön.
Mit seiner Mutter würde er sprechen. Schließlich war sie seine Mutter. Doch Wannes, der nicht sein Vater war, aber auf einmal so genannt werden wollte, hatte sich selber ins Aus manövriert. So einfach war das. Wannes’ eigene Schuld.
»Schaut, da steht unser Bus«, sagte Martine, Chefin der Abteilung für nüchterne Feststellungen.
»Aber bevor wir einsteigen, noch eins«, begann Wannes, und Jimmy bereitete sich auf eine Gardinenpredigt vor, denn der Ton machte deutlich, dass die folgende Mitteilung an ihn gerichtet sein würde.
»Ich will keinen Ärger mit dir in Deutschland erleben. Wenn du es wagen solltest, dort den Kasper zu spielen, hast du selbst die Konsequenzen zu tragen.«
Jimmy ertappte seine Mutter bei ihrem berühmten Blick, diesmal an Wannes gerichtet: Der Kleine war gerade mal still, jetzt lass ihn doch auch in Ruhe.
»Du weißt, dass die deutsche Polizei die strengste der Welt ist?«
Jimmy zuckte die Achseln. Der Meister des Schweigens. Wischnus Augapfel.
»Weißt du auch, was die Deutschen mit Bengeln wie dir machen, die von einer Autobahnbrücke runterrotzen? Oder die Süßigkeiten stehlen?«
Wie lange sollte Jimmy zur Antwort noch mit den Schultern zucken?
»Das weißt du nicht? Es interessiert dich auch nicht? Es wird dich schon interessieren, wenn sie dich schnappen. Sie rasieren dich kahl und transportieren dich mit dem Viehwagen ab in ein Straflager, wo du im gestreiften Pyjama rumlaufen kannst. Da lebst du von Suppe aus Kartoffelschalen, ohne einen Schluck Brühe. Und für dein großes Geschäft musst du auf einen …«
»Och, Liebling, es reicht«, unterbrach Martine ihn, doch so lieb hörte es sich in diesem Moment gar nicht an.
Kapitel 11
F ast wären sie zu spät gekommen, und der Bus wäre ohne sie abgefahren. Alle anderen Reisenden saßen längst schon bequem auf ihren Sitzen und klebten mit dem Gesicht an der Scheibe, um die Familie zu mustern, die zu spät und mit viel zu dicken Koffern auf den Busfahrer zurannte.
Martine, von ihrem Endspurt noch ganz außer Atem, erkannte, dass sie um ein Haar einer familiären Katastrophe entgangen waren. Fast wäre die Reise, auf die sie seit langem gespart und sich seit Wochen gefreut hatten, ins Wasser gefallen – und alles nur, weil sie die Balkontür unbedingt noch mal kontrollieren musste! Aus angeborener Sparsamkeit hatte sie eine Reiserücktrittsversicherung völlig unnötig gefunden, die diene doch nur dazu, die Taschen anderer Leute zu füllen, was sie nicht vorhatte. Na, da hätte sie aber was zu hören bekommen, wenn das jetzt schiefgegangen wäre: der Urlaub zum Teufel und ein Haufen Geld futsch!
Und der Herr schrieb einen
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