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Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Titel: Die Letzte Liebe Meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Verhulst
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Erklärung wäre –, vielmehr erfand er all die Geschichten, um zu sehen, was passierte, wenn man ihn für jemand anders hielt. Mit einer fast schon soziologischen Neugier. Er schwadronierte daher über Sauerstoffflaschen, Druckausgleich und Tiefenkoller, Schnorchel und BCDs, doch so überzeugend, dass jeder ihm glaubte. Mit Hilfe der Filme von Jacques Cousteau (die er gesehen hatte, wenn nichts anderes im Fernsehen lief, übrigens ohne nennenswertes Interesse, denn eine Reportage war ihm eigentlich wie die andere vorgekommen) unterfütterte er seine Lügengeschichten mit pseudowissenschaftlichem Geschwafel über Dekompressionskammern und versunkene Paradiese in den viel zu nassen Wassern vor der Küste Sudans.
    Manchmal durchschaute ihn seine Mutter, wenn er seine Münchhausiaden aus der Schule mitbrachte. Dann sagte sie: »Junge, du musst mal Politiker werden!«, doch leider klang das nie wie ein Kompliment oder eine Ermutigung. Wo er in seinen Geschichten vor den anderen doch auch ihr Leben aufgepeppt hatte! Mehr und mehr hatte er über seine Herkunft gelogen: Sein Vater war kein nichtsnutziger Säufer mit einer lausigen Stelle, sondern eine Respektsperson. Nicht unbedingt Polizist oder Bankier, aber doch mindestens Makler. Schleusenwärter ging auch. Und seine Mutter brauchte nicht in einer düsteren Fabrikhalle Sättel aus Kunstleder zu steppen (für Aero-Motorräder von Honda, das blöde Zweitaktmodell), sondern hatte einen Blumenladen und war Spezialistin für Brautsträuße und Trauerbuketts. Oder er machte sie zur Krankenschwester. Oder Tupper-Party-Veranstalterin. Oder noch was ganz anderes. Wie sich’s gerade ergab.
    (»Sag mal, Jimmy, hast du letztes Mal nicht gesagt, deine Mutter arbeitet in einem Labor, irgendwas in der Forschung für neue Stoffe in Zahnpasta oder so?«
    »Ja, stimmt! Nett, dass du dir das gemerkt hast! Aber da hat sie gekündigt, hab ich dir das noch nicht erzählt? Nach dem Labor hat sie eine Weile als Notenumblätterin bei einem berühmten Pianisten gearbeitet, Grolsch oder Stolz oder so, aber jetzt hat sie schon wieder eine andere Stelle. Meine Mutter braucht Abwechslung, weißt du. Bei ihr muss was passieren, sie hat wenig Sitzfleisch. Jetzt hat sie übrigens auch einen anderen Mann.«
    »Quatschkopp! Pass auf, dass sie sich keinen anderen Sohn sucht!«)
    Jimmy hätte es also wissen müssen. Wissen und kapieren müssen, denn wer sich selbst kennt, kennt zum Großteil auch den anderen: Was seiner Mutter hier auf einem Goldtablett präsentiert wurde, war nicht nur die Chance, ihre Identität zu ändern, sondern gleich ihre ganze Vergangenheit dazu. Und möglicherweise war ihr das viel wichtiger. Vielleicht hatte sie gar kein Bedürfnis, Fremden ihre Stelle als Näherin in der Motorradfabrik zu verschweigen, und schämte sich auch nicht dafür, statt Qualitätsware fast immer das Billigste nehmen zu müssen. Sie brauchte nicht zu verschleiern, was sie war und wie sie dachte. Aber wenn sie ihrem Lebenslauf eine vollkommen andere Gestalt geben durfte: sehr gern!
    Gemeinsame Freunde hatten Wannes und sie nicht. Noch nicht jedenfalls. Doch das würde sich ändern. Jetzt. Hoffentlich. Gut möglich, dass sie sich den neuen, noch unbeschriebenen Geburtstagskalender in Erwartung ihres künftigen Freundeskreises gekauft hatten. Nach dieser Reise sollte er an der Toilettentür prangen, das war nun mal der Ort dafür, alle Innenarchitekten waren da einer Meinung. Geburtstagskalender hingen in Westeuropa an der Toilettentür, was auch erklärte, dass sich Verstopfung als allgemein gültige und akzeptierte Entschuldigung für jeden vergessenen oder verspäteten Geburtstagsgruß durchgesetzt hatte.
    Das, unbestreitbar, war der neue Lebenstraum von Wannes und Martine: eine eigene, abbezahlte Toilettentür, geschmückt mit einem Geburtstagskalender. Ein Ausdruck der im sozialen Leben erzielten Erfolge. Und auf dem Kalender: Namen von ausnahmslos angenehmen Menschen, die weder Wannes noch Martine vor der Paarbildung gekannt hatten, unschuldigen Seelen, die glaubten, die zwei seien schon immer zusammen gewesen, seit dem Anfang der Welt.
    Es war ganz einfach. In einigen Stunden würden sie die Mitreisenden kennenlernen, oberflächliche, doch aufrichtig interessierte Fragen würden hin und her gehen, und lange würde es nicht dauern, bis jemand auf die Idee käme, die beiden Turteltauben zu fragen: »Und wie lang seid ihr schon verheiratet?«
    Jimmys Theorie zufolge hatten Wannes und seine Mutter auf

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