Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Jimmy.
»Na, Junge, hast du deine Zunge verschluckt?«
Jimmy kam der Gedanke, dass die Sorge wegen der unverriegelten Balkontür möglicherweise nur vorgetäuscht war. Zumindest einmal vor der Fahrt musste man eine Gelegenheit schaffen, ein ernstes Wörtchen mit dem Sohn zu reden, von Mann zu Mann sozusagen, und zwar so, dass es spontan wirkte. Wannes und Jimmy im Vier-Augen-Gespräch. Jimmy, so dachten sie wohl, bräuchte das Gefühl, von einem Erwachsenen ernst genommen zu werden. Genauer, von einem erwachsenen Mann! Er konnte sich vorstellen, wie seine Mutter ihrem Lover zugeflüstert hatte: »Sag du’s ihm, von dir wird er’s leichter annehmen!«, und sich darum für einen Moment von den beiden entfernt hatte, als Diva in der von ihr inszenierten Komödie.
Lang konnte es nicht mehr dauern, ein paar Sekunden vielleicht, und Wannes würde das Wort an ihn richten. Sein Ton wäre freundschaftlich und belehrend. Verständnisvoll, doch auch ermahnend. Vielleicht würde er mit etwas anfangen wie: »Schau, Jimmy, natürlich weiß deine Mutter nicht, was es bedeutet, mit einem Pimmel zu leben, sie hat ja keinen, nicht dass ich wüsste jedenfalls, hahaha, und darum weiß sie logischerweise auch nicht, was es heißt, mit einem Pimmel zu pinkeln. Vielleicht geht sie zu selbstverständlich davon aus, dass es keine Kunst ist, unseren Wasserstand auf Normalpegel zu bringen, will ich mal sagen, und weiß überhaupt nicht, dass ein Mann, ein richtiger Mann, der stolz und aufrecht wie ein Baum pinkeln will, den Radius, die Kraft und die Richtung des Strahls schon vor dem ersten Tropfen genau berechnen muss. Keine leichte Aufgabe, wirklich. Darum müssen wir mild sein mit den Frauen, die kein Verständnis für Jungen haben, die ihre Klobrille nass spritzen, sie wissen’s nicht besser, die Frauen meine ich. Das heißt aber nicht, dass wir uns selbst gar keine Mühe zu geben brauchen. Und schon gar nicht, dass wir die Klobrille wie ein Action-Painter bekleckern. Okay, nicht jeder kann Meisterschütze sein, und Pannen kommen immer mal vor, aber wenn du das Becken schon nass spritzt, was sag ich?, das ganze Klo unter Wasser setzt, dann ist das Mindeste, was wir von dir erwarten, dass du die Schweinerei wieder wegmachst. Und nicht einfach husch, husch ein Stück Klopapier drüber oder den Vorleger über die Pfütze, nein, richtig saubermachen . Oder hättest du Lust, mit dem Hintern in der Pisse von jemand anders zu sitzen? Sieh zu, dass sich das ändert, oder du kannst in Zukunft dein Geschäft im Katzenklo machen …!«
Doch Wannes sagte etwas ganz anderes: »Erst schuf der Herr den Mann und dann das Weib, damit der Mann sich dran gewöhnt, wie’s ist, auf sie zu warten.«
Blöde, fand Jimmy, dieses heuchlerische Kumpel-Getue, dieses Pseudo-Geklüngel hinter dem Rücken seiner Mutter. Wenn das Wannes’ Art war, jemands Vertrauen und Freundschaft zu gewinnen! Den Abwesenden zum gemeinsamen Feind erklären – eine Technik, die Jimmy auf dem Schulhof häufig genug erlebte, ja, die er auch selber schon angewandt hatte, er wollte hier gar nicht das Unschuldslamm spielen. Doch ein Erwachsener, der sich mit so miesen Tricks bei einem Kind einschleimen wollte?
Natürlich war es auch für Wannes nicht einfach, um die Sympathie des Jungen werben zu müssen. Eine Sympathie, die er um jeden Preis brauchte, das war offensichtlich. Wenn es ihm nicht gelang, ein gutes Verhältnis zu dem Kind aufzubauen, würde er über kurz oder lang auch seine Geliebte verlieren. Das wusste Wannes. Und das wusste auch Jimmy. Und Wannes wusste, dass Jimmy es wusste, und umgekehrt Jimmy von Wannes. So wie auch beide wussten, dass sie es voneinander wussten, das von dem Wissen, und das von dem Wissen des Wissens. Oder so ähnlich.
»Wo wir jetzt doch hier warten und Zeit haben, uns mal zu unterhalten …«, begann Wannes.
Langsam ließ er die Katze aus dem Sack, etwas musste er loswerden, bevor sie den Bus bestiegen, und dies war die letzte Gelegenheit. Jimmy hatte es gewusst, ihm machte keiner was vor.
»Wo wir jetzt doch hier stehen … Ich möchte, dass du mich in Zukunft nicht mehr mit meinem Vornamen anredest!«
»Mit was für ’nem Vornamen denn dann?«
»Jimmy, jetzt lass endlich mal das Theater, du weißt genau, was ich meine. Bald sitzen wir drei zusammen im Bus, mit lauter anderen Leuten, die uns nicht kennen und mit denen wir knapp eine Woche auskommen müssen. Wenn die nun hören, dass du kleine Wanze mich mit ›Wannes‹ ansprichst, was
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