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Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Titel: Die Letzte Liebe Meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Verhulst
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– leider recht komplizierte – Formel, die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens von Murphys Gesetz zu berechnen, für Zahlenfanatiker und Leute, die sich nach einer schweren Abiturprüfung sehnen, sei sie hier genannt: Wenn D für Dringlichkeit steht, K für Komplexität, W für Wichtigkeit, G für Geschick, V für Verschlechterung und H für Häufigkeit, so erhält man:
    (D + K + W)x(10-G)/20xVx1/(1-sin(H/10))
    Wie aber sollte man dieses Rechenexempel als einfacher Arbeiter mit Realschule lösen, in einem Reisebus, ohne Taschenrechner, während im Hintergrund Seite B einer Kassette von Freddy Breck dröhnte? Und dann hätte man immer noch nur die statistische Wahrscheinlichkeit ausgerechnet. Was hätte einem das genutzt?
    Das Gesetz Murphys, Edward A. Murphys: Wonach Busfahrer Rudy zum Mikrophon griff und verkündete, dass der nächste Halt zur Abwechslung einmal nicht an einer Autobahnraststätte stattfinden würde, wo doch nur Fernfahrer sich den Magen vollschlugen und naive Touristen beim Wechseln geschröpft würden, sondern an einem Hamburgerrestaurant, und zwar – Überraschung, Überraschung – einem McDonald’s, damit jeder dieses neue Phänomen einmal persönlich in Augenschein nehmen konnte, herübergeweht, wie alle neuen Phänomene, aus den Vereinigten Staaten.
    Es gehörte zu den Kernaufgaben von Van-Boterdael-Reisen, die Kundschaft auf jeder Fahrt etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes erleben zu lassen, damit sie, wieder daheim, was zu erzählen hatten. Denn die Leute oder, genauer, sehr viele Leute verreisten nicht, um zu verreisen. Sie verreisten, um verreist gewesen zu sein und davon erzählen zu können. Wir reisen, um wieder nach Hause zu kommen. Diese Unternehmensphilosophie van Boterdaels beruhte auf dem Paradox des Touristen: Der Bus war zum Großteil gefüllt mit fröhlichen Gästen, die zum zwölfundzwanzigsten Mal in den Schwarzwald fuhren, um dort zu erleben, was sie schon elfundzwanzigmal dort erlebt hatten. Das Wiedererleben wurde zum Erlebnis an sich. Wie Wannes’ Mutter, die schon siebenmal in Lourdes gewesen war und doch jedes Mal wieder dasselbe Foto von sich aufnehmen ließ: in Sandalen neben dem Standbild der gekrönten Madonna auf dem Rosenkranzplatz. Und die Wert darauf legte, dass das Foto bei jedem Besuch haargenau wieder so aussah. Oder wie Nachbar Rik, der sich jedes Jahr in einem Dorf am Fuße des Mont Ventoux von seinem todlangweiligen Job bei den Brüsseler Finanzbehörden erholte und jedes Mal bei Ankunft ein Glas Leffe im Café de L’Observatoire trank, immer am selben Tisch, weil er bei seinem ersten Besuch genau dort auch ein Glas Leffe getrunken hatte. Wie kein anderes Unternehmen kannte Van-Boterdael-Reisen die typischen Ticks seiner Kunden. Zwangsneurosen beinah.
    Und so würden auch unsere der Tradition und Wiedererkennung verbundenen Schwarzwaldurlauber in einer Woche daheim wieder strahlen, wenn sie gefragt würden: »Und? Wie war’s im Schwarzwald dies Jahr? Was habt ihr gesehen?« Sie würden sich aufrichten, vorbereitet auf ungläubige Blicke, und dann zuschlagen: »Ob wir was gesehen haben? Na, und ob, halt dich fest! Ob du’s glaubst oder nicht: Wir waren in einem McDonald’s!«
    Van Boterdael Senior hätte es sicher bestätigt: Tourismus ist eine Humanwissenschaft!
    Die überraschende Neuigkeit über den Ort ihrer Mittagspause sorgte unter den Fahrgästen in der Tat für einige Aufregung.
    Und Wannes blieb nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu fragen, ob jemand ihm belgische in französische Francs tauschen könne.

Kapitel 16
    W enn Rudy beabsichtigt hatte, die Stimmung seiner Passagiere auf die Spitze zu treiben, war ihm das mit dem Halt bei McDonald’s gelungen. Selbst Wannes und Martine fühlten sich nach Verlassen des Fastfoodrestaurants vollständig in die Gruppe aufgenommen, so gemeinschaftsfördernd war dieser Besuch und die mit ihm verbundene Erfahrung gewesen.
    Jeder hatte schon von McDonald’s gehört, und wer imponieren wollte, erzählte, jemanden zu kennen, der sogar schon mal dort gegessen habe. In Städten, wo eine Filiale der Kette eröffnete, führte das zu hysterischen Szenen, wie man sie auf dem Kontinent nicht mehr erlebt hatte, seit John Lennon sich bei »I Wanna Be Your Man« (Ernst-Merck-Halle Hamburg, 26. Juni 1966, 21 h 18) eine Haarsträhne richtete. Der Fastfoodgigant symbolisierte den Fortschritt, und Sensationsblätter meinten zu wissen, dass der amerikanische Präsident sich persönlich dafür eingesetzt

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