Die Letzte Liebe Meiner Mutter
trinkenden Eltern gingen auf die gemischte Schule. Das Pech hatte Jimmy nicht. Er pries sich glücklich, von morgens bis abends in einer reinen Jungenwelt leben zu dürfen, in der man zwar ständig über Porsches im Vergleich zu Lamborghinis zu reden hatte und in der Mittagspause über die Anatomie von Mikes Schwester spekulieren musste, um dazuzugehören. Trotzdem war er heilfroh, im Turnen plump wie ein Sack vom Sprungkasten rasseln zu dürfen, ohne dabei das Hohngelächter einer Gruppe graziler Ballerinen fürchten zu müssen. (O weh, die megahohe Frequenz von Mädchengekicher!) Eine gewaltige Angst hatte er davor, nach der Schule an der Haltestelle des Sankt-Josef-Gymnasiums vorbeigehen zu müssen, wo die Mädchen auf ihren Bus warteten. Oder noch schlimmer, die stets eingebildet und feixend dreinschauenden Zicken vom Nonnengymnasium der »Dames van Maria«, vereint in dem harten, doch immerhin geteilten Los einer spinatgrünen Schuluniform. Wie er dann jedes Mal wieder fürchtete, stolpern zu müssen, an eine Laterne zu laufen oder voll in einen nachgemachten Hundehaufen zu treten, den sie, die geborenen Spottdrosseln, auf dem Bürgersteig ausgelegt hatten, für den ersten sich nähernden Trottel männlichen oder noch mindereren Geschlechts …
Nein, hoffnungsvoll hatte er ihre Anwesenheit im Bus nicht registriert. Wer ihn dafür sehr wohl faszinierte, war der alte Mann, der neben ihr saß und mit dem sie ab und zu ein freundschaftliches Wort wechselte. Mehr noch als das Alter des Mannes war es seine Art, sich zu kleiden, die Jimmys Aufmerksamkeit erregte. Ein distinguierter, älterer Herr im steifen Anzug, mit pergamentener Haut und einem Gesicht, das mit seinen vielen Flecken an eine vergilbte Landkarte erinnerte. Weniger Haare als die meisten Pater, doch was ihm noch blieb, war mit äußerster Sorgfalt gewaschen und gekämmt.
(Jahre später sollte Jimmy spontan an diesen Mann zurückdenken müssen, als er ein Foto des betagten Vladimir Horowitz sah, der mit den Fingern eines flinken Dreißigjährigen Impromptus von Schubert spielte. Nur dass Horowitz eine Vorliebe für Fliegen gehabt und der alte Mann im Bus seinen Adamsapfel hinter einem dandyhaften Schal versteckt hatte. Das jedoch war, wie gesagt, erst viel später, als Jimmy der Name des Mädchens partout nicht mehr einfallen wollte, wie sehr er sich das Hirn auch zermarterte.)
»Den Big Mac musst du nehmen!«, hatte sie also gesagt. »Das ist das Beste, was sie hier haben!«
Ertappt hatte er sich gefühlt. Während er die exotischen Hamburgernamen auf den Leuchttafeln las, muss man ihm angesehen haben, dass auch ihm diese Wunderwelt fremd war. Doch er beherzigte ihren Rat und bestellte einen Big Mac.
Seine Mutter fragte: »Einen Bik was?«
»Einen Big Mac!«
»Was ist das?«
»Das ist das Beste, was sie hier haben!«
Sie hieß Héloïse, das sagte sie ganz von allein und ersparte Jimmy damit das heikle Abenteuer, ein Mädchen nach seinem Namen zu fragen. Héloïse also, ah ja, und er dachte bei sich: Was für ein Name, den vergesse ich nie. Sie lud ihn ein, diesen göttlichen Big Mac, den Mercedes unter den Hamburgern, die höchste posthume Daseinsform jedes Rinds, zusammen mit ihr zu verspeisen. Seine Mutter erlaubte ihm, sich mit Héloïse an einen eigenen Tisch zu setzen. Das heißt, sie erlaubte es ihm, wenn Wannes es ihm erlaubte. Und auch Wannes erlaubte es ihm, unter der Bedingung, dass er sich endlich benahm.
»War das jetzt nötig?«
»War was nötig?«
»Zu sagen, er soll sich ›endlich‹ benehmen. Wenn er nichts ausgefressen hat, brauchst du ihn doch auch nicht zurechtzuweisen!«
Jemand bemerkte orakelnd: »Schau an, die Jugend findet sich beim Essen von Hamburgern. Die neue Generation, nicht wahr? Wir kommen nicht mehr mit, unsere beste Zeit ist vorbei. All die Neuerungen sind nicht mehr für uns.«
Martine allerdings betrachtete die Sache noch von einer ganz anderen Seite.
»Ist das nicht die Höhe? Koch ich zu Hause Chicorée mit Schinkenröllchen in Käsesoße, rümpft er die Nase wie die Katz vorm Salmiak. Und jetzt stürzt er sich hier auf diesen amerikanischen Fraß, als wenn er bei mir nur trocken Brot bekäme!«
Der alte Mann, mit dem Héloïse reiste, war ihr Großvater, erzählte sie Jimmy schon bei diesem ersten Gespräch. Opa hatte das Essen lieber ausfallen lassen und war im Bus geblieben, erstens, weil er solch dekadente Gerichte nicht mochte, und zweitens, weil er die Gelegenheit zu einem Nickerchen nutzen
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