Die Letzte Liebe Meiner Mutter
oft war – eines Mittags in der Schule vergessen hatte, seine Frühstücksbüchse in den Speisesaal mitzunehmen, und ins Klassenzimmer zurückkehren musste. Die sonst von so lautem Gejohle widerhallenden Flure hatte er jetzt für sich, und er genoss es, als Einziger da zu stehen, wo man sonst nur als winziges Rädchen eines gigantischen Ganzen auftreten durfte. Fast angenehm schwindlig machte ihn diese Stille. Er spürte, wie sein Wahrnehmungsvermögen sich schärfte, sah Streifen Sonnenlicht durch die Glasfenster brechen, roch den Staub auf den hölzernen Garderoben, den vor ihm bestimmt schon zig Schülergenerationen gerochen und eingeatmet hatten. Die Melancholie war seine Bestimmung, das spürte er, und er fand es in Ordnung. Es war das schönste Gefühl seiner gesamten Kindheit: die Einsamkeit in dem großen, verlassenen Bau, der dunklen Gruft namens Schule. Daran würde er denken, wenn er beim nächsten Mal wegen Ungehorsams vom Lehrer auf den Flur geschickt wurde: dass es herrlich war, ganz allein dort zu stehen. Etwas, worauf man sich freuen konnte.
Trotzdem bekam Jimmy an jenem Mittag Angst vor sich selbst, als ihm klar wurde, dass die Türen all der Klassenzimmer nicht abgeschlossen waren und er somit darin alles tun konnte, was er wollte. Auch stehlen. Füller, Locher, Zirkel, Winkelmesser, Venn-Diagramme, Filzstifte, Kaugummis mit Kokosaroma … er brauchte nur zuzugreifen. Und genau das tat er dann auch. Er raffte zusammen, voll Schuldgefühl. Die Reue kam diesmal schon vor dem Delikt, denn er bestahl seine Kameraden, Freunde sogar, dabei hatte er alles andere vor, als ihnen wehzutun. Doch er musste zugreifen, es war wie ein Zwang.
Jener Mittag war der Wendepunkt. Jimmy spürte genau, dass er sich vor sich selbst ekeln würde, gelänge es ihm nicht, diese schreckliche Sucht zu besiegen, und so nahm er sich, als er endlich alles in einer Mülltonne entsorgt hatte, ganz fest vor, nie mehr etwas zu stehlen. Ehrenwort. Um den Selbstrespekt zu bewahren. Und er hatte es geschafft. Leicht sogar.
Bis jetzt.
Eine Handtasche. Einfach da, vor seinen Füßen.
»Warum grinst du so?«, fragte Héloïse, die gerade eine Anekdote aus ihrem sorglosen Leben erzählte.
»Grinsen? Ich?«
»Deine Mundwinkel sehen aus, als hättest du sie hinter den Ohrläppchen aufgehängt.«
Daran musste er noch arbeiten: an seinem Pokerface.
»Ich hab mich grade gefragt … Wenn man einen Diebstahl begeht, mit der festen Absicht, erwischt zu werden, ist es dann eigentlich noch ein richtiger Diebstahl?«
Das hatte er sich tatsächlich gerade ausgemalt, ein Traumszenario: Er stiehlt die Handtasche, aber so unprofessionell, dass er erwischt wird und die Eigentümerin dieses so wichtigen Frauenutensils den ganzen Bus zusammenschreit. Alle starren ihn an. All diese anständigen Leute mit ihren anständigen Stellen und anständigen Häusern, die ihre Urlaube mit anderen anständigen Familien verbrachten, hätten auf einmal einen Dieb in ihrer Mitte. Oh, er konnte sich die Gesichter schon vorstellen. Er sah sie schon gucken: erst auf ihn, dann auf Wannes und seine Mutter, die vermeintlichen Eltern, die dieses Kind zu einem Verbrecher erzogen hatten. Und dann käme die Frage, warum er das mache, Handtaschen stehlen, die Frage, auf die er jedenfalls hoffte, als ideale Vorlage zu seiner Revanche.
»Ich würd meinem Vater gern eine Karte schreiben, aber der neue Mann meiner Mutter gibt mir kein Geld.«
Genau das würde er sagen, deutlich vernehmbar für alle, und er musste sich beherrschen, nicht jetzt schon damit herauszuplatzen.
Vielleicht sollte er »Mann« durch »Geliebten« ersetzen, das klang noch gemeiner. Jawohl: »Der Geliebte meiner Mutter gibt mir kein Geld!« Oder »Liebhaber«. Das saß noch besser. Das würde einschlagen. Übrigens stimmte es ja. Wannes war nicht ihr Mann, sie waren nicht verheiratet. Noch nicht.
Héloïse wiederholte seine Frage. Daran erkannte man häufig die Unwissenden: Wenn ihnen nichts einfiel, wiederholten sie einfach die Frage, statt eine Antwort zu geben.
»… Wenn du einen Diebstahl mit der Absicht begehst, erwischt zu werden, ist es dann noch ein Diebstahl, fragst du? Herrje … Warum willst du das wissen?«
»Einfach so.«
»Einfach so?«
»Einfach so!«
»Komische Fragen stellst du ›einfach so‹ … Hast du das öfter?«
»Was?«
»Solche komischen Ideen.«
»Ja … eigentlich schon.«
»Ich glaube, du solltest mal Philosoph werden.«
Philosoph. Er schmeckte das Wort, wandte es
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