Die Letzte Liebe Meiner Mutter
vergessen, was zum Teil jedoch auch am Ausflug des letzten Tags liegen mochte, einer Gondelbahnfahrt zu einem nahegelegenen Berg, von dem aus man bis in die Vogesen blickte.
Nein, an der Stadt lag es nicht, wenn es plötzlich zu Eheknatsch kam. Es lag am Zeitpunkt, das war Rudy inzwischen klar. Selbst wenn man für den Tag eine romantische Bootstour auf dem Bodensee geplant hätte, so hätte das keinen der Kräche verhindert, da war er sich sicher. Streit gehörte zum Urlaub wie das Kaufen von Souvenirs. Familien, die im Laufe des Jahres keine Zeit gehabt hatten, sich richtig zu streiten, holten das im Urlaub endlich nach. Es gehörte dazu und hatte seinen höheren Sinn, als Reinigungsritual, als Teil der Beziehungshygiene.
Zweifellos auch eine Rolle spielte die Tatsache, dass man das Jahr über verlernt hatte, zusammen zu sein. Wer ständig durch die Tage und Seiten seines Terminkalenders hastet, so dass das Hirn zuletzt jeden Abend mit Glotze betäubt werden muss, kennt den anderen wirklich nicht mehr. Wenn man dann auf einmal im Urlaub vierundzwanzig Stunden am Stück aufeinander hockt und außerdem nicht mal Fernsehen hat, kann schon mal was hochkochen, was sonst das Jahr über einfach verdrängt wird.
In größerem Maß erlebte man das auch bei Rentnern. Ehepaare, die an der Arbeit vierzig Jahre lang voneinander hatten ausruhen können und plötzlich nonstop zusammen sein mussten, beantragten auf einmal die Scheidung. Statt vorbildliche Großeltern und Babysitter für die Enkel zu sein, begaben sie sich erneut in die Rolle des Singles. Begegnete ihnen dann auf ihrem langsam zu Ende gehenden Lebensweg noch einmal die Liebe, wurden sie pubertierende Rentner, die ihrer Familie mehr Schande machten, als wenn sie einfach Alzheimer bekommen hätten, wie sich das für sie gehörte. Rudy kannte all die Geschichten, und sie machten ihm Angst. Denn er, der kaum einmal fünf Nächte hintereinander im eigenen Bett geschlafen hatte, und das über viele Jahre hinweg – wie wäre es für ihn, seiner Frau plötzlich keine Sekunde mehr von der Seite zu weichen? Und sie, die sich das Warten auf ihn vielleicht mit sporadischen Liebhabern versüßt hatte, der Horrorgedanke schlechthin, der Fernfahrer überall auf der Welt in die Arme des Suffs und der Autobahnhuren trieb, wie würde sie seine ständige Anwesenheit wohl ertragen? Wussten sie überhaupt noch, wer der andere war?
Er durfte gar nicht dran denken.
Noch immer stand Rudy im Flur. Normalerweise war er die Diskretion selbst, doch jetzt siegte seine Neugier über die guten Manieren, und er trödelte vor dem Zimmer herum. Er bückte sich und band sich die Schuhe. So hatte er wenigstens eine Entschuldigung, wenn die Tür plötzlich aufging oder jemand anders ihn hier ertappte.
»Nein, ich bin nicht dein Vater!«, ging der Streit drinnen weiter. »Aber du kannst doch wenigstens so tun! Sonst seh ich nicht ein, warum ich so tun soll, als wärst du mein Sohn!«
Ganz klar, der dritte Tag hatte mal wieder begonnen! Gleich gab es unten Eier mit Speck.
Kapitel 26
E in geschickter Anwalt hätte es vor Gericht so drehen können, dass kein Vorsatz vorlag, weil vor der begangenen Straftat keine Möglichkeit bestanden hatte, die Aktion zu bedenken. Ein reiner Impuls, das war auch juristisch das einzig richtige Wort, welches der Angelegenheit das Prädikat »kriminell« nahm. Denn ganz eindeutig war es so gewesen: Erst als Jimmy im Bus Richtung Freiburg vor sich unter dem Sitz eine Handtasche liegen sah, überfiel ihn dieser Gedanke, wie eine Zwangsidee, dass er die Handtasche stehlen müsse. Nun ja, nicht die Handtasche selbst, vielmehr das Portemonnaie, das sich höchstwahrscheinlich darin befand, oder genauer, das Geld, das vielleicht darin steckte.
Schließlich war Jimmy am Morgen nicht mit dem Gedanken erwacht: Heut klau ich ein Portemonnaie! Nicht mal in den Bus eingestiegen war er mit der Idee. Sein alles beherrschender Gedanke war: Ich darf wieder neben Héloïse sitzen! , und daneben hatte keine einzige andere Überlegung mehr Platz. Doch als er die Handtasche sah, die sprichwörtliche Wurst, die man dem Hund vorhält, nicht wahr, brachte dies das ebenfalls sprichwörtliche Fass zum Überlaufen, und Jimmy musste, ja, musste , hohes Gericht, mit exakt diesem Modalverb würde der Psychologe den Staatsanwalt niedermetzeln, Jimmy musste also die Handtasche stehlen. Möglichkeiten, über das Delikt nachzudenken, ergaben sich vielleicht später, solange es jetzt nur begangen
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