Die Letzte Liebe Meiner Mutter
wurde.
Neu war Jimmy dieses Gefühl nicht, und er wusste genau, wann – und vor allem wo – er es zum ersten Mal verspürt hatte. Im kleinen Supermarkt Jumpy, der tatsächlich so klein war, dass man ihn heutzutage als »Nachbarschaftsladen« bezeichnen würde. Wie dem auch sei, es war das erste Geschäft in der Gegend mit eigener Fleischerabteilung und einem Gerät, das den Kunden die Namen abnahm und ihnen stattdessen eine Wartenummer verpasste, und einer Kasse, wo man die Waren auf ein Band legen musste. Der erste Laden auch mit leiser Dudelmusik, zwischen der manchmal Reklame ertönte – ganz eindeutig ein Supermarkt also. Dort spürte er es zum ersten Mal.
Das Objekt, das damals den genannten »Impuls« auslöste, war eine Packung mit Wachsmalstiften. Dazu muss man wissen, dass Jimmy keinerlei Bedürfnis nach Wachsmalstiften verspürte, er fand es sogar eher unangenehm, die fettige Kreide zwischen den Fingern zu haben, und fand die Farben zu schrill. Doch die Schachtel, sie schien ihn zu rufen, nicht mehr und nicht weniger: »Stiehl mich – nimm mich mit!«
Die goldenen Zeiten für waschechte Kleptomanen mussten noch kommen: Vorläufig kannten die Läden keine Alarmanlagen, mit einem Diebstahl ließ sich also wenig Ehre einlegen. Und Kameras sorgten weniger für die Sicherheit der Händler oder Besitzer schicker Villen, sondern dienten noch zum Aufzeichnen von Quizsendungen, in denen das einundzwanzig Buchstaben zählende Wort »Gebärmutterentzündung« auf einem Schieberahmen gebildet werden musste. Auch Jimmy hatte daher zugeben müssen, dass das Stehlen der Stifte viel einfacher gewesen war als erhofft. Er hatte sich die Schachtel unter den Pulli gesteckt, wie alle Anfänger, und war einfach (nicht pfeifend, das war für Stümper) aus dem Laden entfleucht. Niemand schöpfte Verdacht, hielt ihn auf oder stellte ihm eine Frage. Sein Herz, das ist wahr, klopfte etwas heftiger als sonst, die Schachtel hätte ihm ja zum Beispiel auf den Boden fallen können, doch insgesamt hatte er sich einen größeren Kick erhofft.
Einmal auf der Straße, hatte er seine Beute in den erstbesten Mülleimer geworfen. Er war erleichtert, dass niemand ihn erwischt hatte, doch gleichzeitig wusste er auch, dass er das ab jetzt öfter tun würde.
Sein zweiter Diebstahl war etwas Süßes. Einer der pinkfarbenen, platten, elastischen Würmer, mit denen die Zunge eine halbe Stunde lang Sport treiben konnte. Das Spannende dabei war, dass er die Süßigkeit in einem Laden geklaut hatte, wo Martine täglich einkaufte. Erwischt zu werden hätte somit ernste Folgen für sowohl sein gesellschaftliches Leben als auch das seiner Mutter gehabt. Mit dem Finger hätte man auf sie gezeigt, als die Mutter und damit Erzieherin eines Diebs. Mit anderen Worten, Jimmy trug Verantwortung und musste den perfekten Diebstahl begehen, um den Leumund der Mutter zu wahren. Stärker als diese prickelnde Spannung war zuletzt jedoch das schale Gefühl, etwas gestohlen zu haben, das er wirklich gern wollte. So wirkte es fast wie etwas Notwendiges. Stehlen war ja nur aufregend, solange die Ausführung wichtiger war als die Beute. Aber auch hier hatte es keinerlei Vorsatz gegeben. Bis fünf Sekunden vor der Tat war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, etwas zu stehlen. Erst der Anblick der Süßigkeit setzte den Mechanismus in Gang.
Jimmys Gewissen war damals schon auf demselben Stand wie das der meisten Erwachsenen, in dem Sinne, dass er es als kein echtes Verbrechen empfand, vom Mittelstand zu stehlen. Außerdem musste er im Beichtstuhl der Schulkapelle jetzt nicht mehr seine Phantasie bemühen. Endlich hatte er was zu erzählen, ein Diebstahl, ehrwürdiger Vater, eine Schachtel Wachsmalstifte und eine Süßigkeit aus chemischen Himbeeren. Eine lässliche Sünde, da war er sich sicher. Man konnte mit dem Herrn bestimmt einen Deal schließen. Drei Ave-Maria als Buße, und die Rechnung war wieder beglichen. Jeder in seinem Alter stahl mal was, oder nicht? Ein notwendiger Schritt in der Entwicklung. Ein kleiner zwar, doch tun musste man ihn. Wenn bestimmte Kinder nie etwas stahlen, dann hieß das normalerweise nur, dass sie zu faul dazu waren, und dann wurde später auch nichts anderes aus ihnen als lauter Nichtsnutze, abhängig vom Wohlwollen der sozialen Instanzen. So bahnte Jimmy sich unbeschwert weiter den Weg zum Erwachsenendasein, und hin und wieder half ihm dabei ein kleiner Diebstahl.
Sorgen begann er sich erst zu machen, als er – zerstreut, wie er
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