Die Letzte Liebe Meiner Mutter
seinem Aufzug erklärt: Er trägt seinen verschlissenen, aber bequemen Pyjama, Pantoffeln mit einem Loch auf Höhe des großen Zehs im Linken, und er ist unrasiert. Bis auf Besuche beim Arzt steht schon seit Jahren nichts mehr in seinem Terminkalender, die Strafe dessen, der all seine Freunde und Lebenspartner überlebt. Nein, er kann jetzt keinen Besuch empfangen, was nicht heißen soll, dass er nicht darauf vorbereitet wäre. Intuitiv weiß er, dass dieses Treffen schon sein Leben lang auf ihn wartet. Die einzige noch ausstehende Begegnung. Danach kann und darf er ruhig gehen.
Dass er bisher nie nennenswert krank war, nicht vom Blitz getroffen oder von einem Trunkenbold angefahren wurde, hat alles mit dem Ziel zu tun, das er sich als junger Mann gesetzt hat: den Menschen kennenzulernen, der jetzt vor der Tür steht, seinen zwölf Jahre jüngeren, inzwischen wohl auch schon greisen Halbbruder, wahrscheinlich Kenneth Impens mit Namen.
Es muss sein Halbbruder sein, Jimmy wüsste nicht, wer sonst am Ende des Tages, am Ende seines Lebens bei ihm vor der Tür stehen sollte.
Er sieht, wie die Angst seiner im Haus lebenden Pflegerin Marthe eine neue Falte ins Gesicht treibt, Marthe, der jede dermatologische Unebenheit Horror bereitet und die sich morgen noch mehr feuchtigkeitsspendenden Glibber ins Gesicht schmieren wird. Seit Jimmy sie eingestellt hat (den letzten Luxus, den er sich gönnt, um nicht in einem Pflegeheim seine Identität aufgeben zu müssen), hat sie um diese unheimliche Uhrzeit noch nie jemandem die Tür aufgemacht. Nun bedauert sie es, dass der Hund, den sie wegen seines Gestanks oft verfluchte, unter der Linde begraben liegt, zwischen den zahllosen Katzen und Hühnern, die jahrelang dieses Haus bevölkerten. Mit dem knurrenden Vierbeiner als Bodyguard würde sie sich ein ganzes Stück sicherer fühlen. Obwohl seine Zähne zuletzt völlig stumpf waren und alles andere dahinter von der Osteoporose derart zermürbt, dass nicht mehr die geringste Drohung von ihm ausging. Das ihnen vor Jahren zugelaufene Kaninchen, dem Jimmy freien Auslauf in allen Räumen gewährt, womöglich das letzte Haustier auf diesem Hof, nutzt ihr jedenfalls gar nichts. Denn eines weiß Marthe: Wer um diese Uhrzeit an der Tür eines 91-Jährigen klingelt, hat Übles im Sinn.
Echte Sorgen um ihren Arbeitgeber macht sie sich nicht. Die Welt vermisst keinen Greis, dem für den Inhalt einer mageren Haushaltskasse der Hals umgedreht wird. Ebenso wenig glaubt Marthe, dass sie ihn besonders verteidigen würde, schließlich hat sie eine gute Ausrede: Sie sei ja nur ein wehrloses Weib. Die eigene Haut ist ihr näher, und sie fürchtet, am Ende sein Los teilen zu müssen. Geknebelt zu werden, missbraucht und zuletzt einfachheitshalber auch noch ermordet, um vor Gericht den Platz im Zeugenstand leer zu lassen.
Fragend sieht sie Jimmy an, mit dramatischer Geste auf die Uhr zeigend.
»Ich soll doch bestimmt nicht mehr aufmachen, oder?«
Seit ein paar Monaten bestiehlt sie ihn, und er tut, als ob er nichts merkt. Die Beobachtung dieser durch und durch menschlichen Unart unterhält ihn enorm, und er lässt sie gewähren. Es ist die einzige Freude, die sein Besitz ihm noch bringt: bestohlen zu werden und das Verhalten der Diebin studieren zu können. Mit fast wissenschaftlichem Eifer erforscht er ihre Reaktionen und führt verschiedene Experimente an ihrem schlechten Charakter durch. So sagt er zum Beispiel: »Jetzt hätt ich doch schwören können, dass die silberne Zuckerzange hier in der Schublade lag!«, wohl wissend, dass das bewusste Utensil das Haus längst in ihrer Handtasche verlassen hat, um dem hinzuzufügen: »Tja, wenn die Demenz mich noch erwischen will – irgendwo muss sie ja anfangen!« Ein Hochgenuss, zu beobachten, wie ihre Miene sich während dieses einen Satzes mehrmals verändert!
»Aber natürlich machst du auf!«
»Es ist halb zehn am Abend!«
»Na und? Hat irgendwer eine Sperrstunde verhängt?«
»Aber Sie erwarten doch niemanden?«
»Was weißt denn du? Bloß weil ich so ein Tattergreis bin, muss ich dir doch nicht all meine Verabredungen beichten. Du bist meine Haushälterin, nicht meine Mutter!«
Seine Widersetzlichkeit macht ihm Freude. Als hätte er schon lange nur noch dem Tod entgegengesiecht und plötzlich einen aufrüttelnden Tritt in den Hintern bekommen.
Nicht dass er sich für seine abgetragenen Pantoffeln und seinen Pyjama schämt, o nein, er ist Dandy genug, es zu genießen, einen Gast in
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