Die Letzte Liebe Meiner Mutter
verschlissener Nachtkleidung zu empfangen. Doch weil er ansonsten nicht recht ausdrücken kann, wie viel ihm dieses Treffen bedeutet, ist eine Rasur und ein sauberes Hemd zumindest eine kleine Geste.
Ein zweites Mal geht die Klingel, und er hat den Eindruck, dass der Finger diesmal zwei Takte länger den Knopf gedrückt hält.
»Marthe, jetzt mach die Tür auf, und führ unseren späten Gast in die Bibliothek. Nimm ihm den Mantel ab, gib ihm was Gutes zu trinken, und sag ihm, dass ich mich kurz frisch mache, aber gleich komme.«
»Aber Sie wissen doch nicht einmal, wer …«
»Tu, was ich dir sage – und beeil dich! Es gehört sich nicht, jemanden so lange in der Kälte stehen zu lassen.«
Während Jimmy im Badezimmer, mit einem dicken Bart aus Rasierschaum, ein verhinderter Weihnachtsmann, eindringlich sein Spiegelbild mustert, schwankt sein Gemüt zwischen Triumph und Trauer.
Trauer, weil er nun spürt, dass sein Leben vorbei ist. Nach diesem Abend hat er kein Ziel mehr, und sein Körper, Stoffwechsel und Immunsystem werden das merken. Den Triumph spürt er, weil er ein uraltes Versprechen eingelöst hat.
Als er damals von seiner schwangeren Mutter und ihrem Kerl auf die Straße gesetzt wurde ( »Geh zu deinem versoffenen Vater, du kennst ja die Kneipen, wo er residiert. Oder frag im Waisenhaus, ob sie da ein Bett für dich frei haben, uns ist das ganz egal, und wenn du in der Gosse landest, hier bleibt die Tür für dich zu …« ), damals hatte er sich geschworen, keine Träne zu vergießen. Eine Frage der Selbstachtung. Und des Überlebens. Kein Mensch wollte seiner Geschichte glauben, niemand schien sich vorstellen zu können, dass ein Junge von kaum vierzig Kilo von seiner Mutter einfach so auf die Straße gesetzt worden war. Vor allem, weil sie in der Umgebung überall als liebende Mutter bekannt war, die ihren Sohn durch eine gewalttätige Ehe gelotst und sich manchmal das Essen vom Mund abgespart hatte, um ihm ein Paar Schuhe zu kaufen. Es musste schon mehr vorgefallen sein, darüber waren die Spießer sich einig. ( »Du verschweigst uns irgendwas, Bürschchen. Du musst was ganz Fürchterliches ausgefressen haben – um eine Mutter so weit zu kriegen, dass sie ihr Kind einem solchen Los überlässt, muss man schon ein Naturgesetz brechen oder was noch Schlimmeres!« ) Als Auswurf betrachtet, als verkommenes Aas, das das fünfte der Zehn Gebote gebrochen hatte, abgeschrieben von der bornierten Meute aufgrund von Klatsch und Tratsch. Allein gelassen mit der Wahrheit.
Der Kampf, den Jimmy damals aufnahm, das Ziel, das er sich setzte, war klar: so sehr von sich reden zu machen, dass seine Mutter seine Existenz nicht mehr ignorieren konnte. Sie, die – von ihrem Geliebten gezwungen oder auch nicht – ihn aus ihrem Leben verbannt hatte, sollte bis zuletzt auf ihn angesprochen werden, ihren Erstgeborenen und Totgeschwiegenen. Man konnte das als Rache an der Vergangenheit sehen, es interpretieren, wie man wollte, oder auch nicht, doch eines Tages würde sein Name ihr ins Gesicht springen. Und es würde wehtun.
Er hätte es sich leicht machen und eine Art Elvis werden können. Oder ein Pablo Picasso. Jemand, bei dem die Nennung des Vornamens genügte. Nie zuvor in der Geschichte war es so einfach gewesen, berühmt zu werden, und nie zuvor brauchte man dafür so wenig zu können. Doch Jimmy, gelenkt von einem Mangel an anderen Talenten und Interessen, hatte den Pfad der Philosophie eingeschlagen und dort mit einigen Theorien über Sub-und Superstrata in der Gesellschaft Furore gemacht. Theorien, die beeindruckender klangen, als sie in Wirklichkeit waren. Philosophiestudenten bekamen mit ihm in den letzten Stunden ihrer Einführungsseminare zu tun, zumindest, wenn der Professor in dem Jahr nicht zu lang bei populären Denkern wie Wittgenstein, Schopenhauer, Vermeersch, Sloterdijk oder Sartre hängengeblieben war. In Quizsendungen, die seine Mutter wahrscheinlich guckte, wenn sie zwischen zwei romantischen Komödien angesetzt waren, wagte man manchmal die Intelligenz der Kandidaten zu prüfen, indem man nach dem Philosophen Jimmy Vos fragte, wenn auch vielleicht erst in der Bonusrunde am Schluss, bei der man es keinem Teilnehmer mehr übel nahm, wenn er die Antwort nicht wusste. Wie dem auch sei: All das waren Schritte in die richtige Richtung. So wie die gelegentlichen Einladungen zu Hintergrundsendungen zu bestimmten Themen, wo er um seine Meinung zu einem neuen gesellschaftlichen Phänomen oder ethischen
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