Die Letzte Liebe Meiner Mutter
eine Göttin unter Quallen, trug Jimmy schon in sich. Als winzigen Schleimfaden zwar nur, doch in ihr war er, und damit irgendwie auch auf dem Foto. Noch wusste es niemand, mit dem bloßen Auge war es nicht zu erkennen, doch was die Kamera an dem Tag am Strand festgehalten hatte, war das Porträt einer werdenden Mutter.
Wie vielleicht auch auf dieser Reise alle Fotos von Martine Abbildungen einer künftigen Mutter waren …
Immer noch konnte Jimmy sich kaum vorstellen, dass Héloïse recht haben sollte. Seine Mutter und schwanger? Héloïse war natürlich ein Mädchen und hatte wohl schon allein darum Sinn für Details, die ihm entgingen. Geschwollene Füße? Dunkle Ringe um die Augen? Wasser in den Ellbogen? Vielleicht war Jimmy wirklich der Einzige, der von der bevorstehenden Geburt eines Bruders oder einer Schwester nichts wusste. Der Geburt eines Vollbluts, eines reinen und edlen Sprosses aus der Beziehung zwischen Wannes und seiner Mutter, das lebende, in Windeln kackende Symbol der Hoffnung und der Erneuerung, ein bewusst und mit Liebe an einem faulen Sonntagmorgen gezeugtes Kind, das Gegenteil eines Versehens oder Unglücks und somit ein Glück. Das Kind, das geschiedene Frauen oft schnell zur Welt bringen, um dem Ex klarzumachen, dass es wirklich vorbei ist und dass es keine Rückkehr geben wird. Worauf Wannes noch mehr auf Jimmy herabblicken würde, diesen Bastard, den letzten Ballast einer fremden Vergangenheit, das Kuckuckskind.
» Mama! «
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
» Ich rufe dich an .«
»Bitte?«
» Ich rufe dich an .«
»Alles in Ordnung mit dir, Junge?«
»Oh, Mama, ich bin allein, so ganz allein.«
»Hörst du das, Wannes? Wie kommt er auf einmal auf so was? Ich glaube, ihm bekommen die Pfannkuchenstreifen in der Suppe nicht.«
»Ein Wichtigtuer und Kasper ist er!«
»Ich will nicht einsam sein …«
»Och, Jimmy, jetzt halt doch mal bitte den Schnabel, oder ich schnapp hier noch über.«
»… und wünsche mir, dass es so wie früher wär.«
»Ein total alberner, dämlicher Kasper! Gestört von oben bis unten. Und nichts als Schlechtigkeiten im Kopf. Und dann wagen die Leute gestern vorm Essen auch noch zu sagen, er sähe mir ähnlich. Hätt ich in dem Moment einen Spaten gehabt, ich hätt mir ’ne Grube gegraben, um mich vor Scham zu verstecken!«
Natürlich erkannte wieder mal keiner, was er hier zitierte.
Kapitel 32
D ie Koffer lagen aufgeklappt auf dem Bett, im Zimmer hing schon die Wehmut, die dem vorletzten Urlaubstag immer anhaftet, eine kleine Übung im Sterben, und Martine faltete die Hemden, die in diesem Urlaub nicht mehr gebraucht würden, und packte sie ein. Gut möglich, dass dies hier das Bild werden würde, das Jimmy später einmal von seiner Mutter definitiv im Gedächtnis behielt: das einer Hemden zusammenlegenden Frau.
Für morgen stand noch eine Fahrt zum Höchenschwander Berg auf dem Programm, abends würde man auf der Terrasse des Gasthofs den letzten Sonnenuntergang auf deutschem Boden genießen, ein Glas Gewürztraminer erheben und gemütlich über den rasenden Lauf der Dinge philosophieren. Vielleicht käme dann noch die obligatorische Witzerzählrunde, ein mehr oder weniger gequältes, gemeinsames Lied um Akkordeon und Bauch des Hotelbesitzers herum sowie das rituelle letzte Anstoßen. Doch dann würde das Kalenderblatt unwiderruflich heruntergerissen, und es blieb nur noch die Rückfahrt zu einem brechend vollen heimischen Briefkasten mit hoffentlich mehr Rabattgutscheinen zum Ausschneiden als ausstehenden Rechnungen. Jetzt schon wusste Martine, dass sie gleich bei der Heimkehr die Fenster aufreißen würde, um zu lüften, und eine Waschmaschine befüllen. Und dann gab’s Kartoffeln zu schälen und Gemüse zu waschen, denn ewig konnte nicht Sonntag sein; die Zeit der Faulenzerei war vorbei, was übrigens auch besser fürs Portemonnaie war. Doch sie hatte den Trost ihrer vertrauten Serien im Fernsehen, ihrer Helden und Antihelden, von Armand Pien, der ihr jeden Abend pünktlich um halb acht das Wetter für den kommenden Tag präsentierte, bis zu der dürren, aber schönen Lucélia Santos in ihrer Glanzrolle als Isaura, Martines fester Verabredung mit dem Tal der Tränen am Donnerstagabend (zumindest, wenn kein Fußball den Äther verstopfte).
Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, es hatte ihr gutgetan, für eine Weile dem Alltag zu entfliehen, doch jetzt sehnte sie sich wieder entsetzlich danach zurück. Wieder auf ihrer eigenen
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